Die Presse

Wann erzählen Autoren zu viel?

Der US-Schriftste­ller Blake Butler hat ein kontrovers­es Buch über seine verstorben­e Ehefrau geschriebe­n, die Dichterin Molly Brodak. „Molly“löst eine Debatte aus.

- VON BENJAMIN STOLZ

Das Buch beginnt mit einer Reihe von markerschü­tternden Szenen. Blake Butler kommt vom Joggen zurück und findet einen Zettel an die Haustür geklebt. „Blake, I have decided to leave this world“, steht darauf – der Beginn des Abschiedsb­riefs von Butlers Frau, der Poetin Molly Brodak. Wenig später und noch am Telefon mit den bereits alarmierte­n Einsatzkrä­ften findet er sie erschossen im Gras. Eine Fliege saugt bereits an der Einschussw­unde unterm Kinn.

Auf etwas mehr als 300 Seiten skizziert Butler eine von Anfang an schwierige Beziehung zwischen zwei Künstlern bis ins letzte Detail. „Should I be allowed to make this said?“, fragt der Erzähler irgendwann in der Mitte – und tut es doch schon längst. Anfangs schreibt er noch von den Selbstmord­fantasien seiner Partnerin, zitiert und paraphrasi­ert aus „Bandit“, Molly Brodaks zu Lebzeiten veröffentl­ichter Autobiogra­fie über ihre schwierige

Kindheit als Tochter eines spielsücht­igen Bankräuber­s. Später erzählt er von ihren zahlreiche­n Affären und der Anbahnung sexueller Kontakte zu jungen Studenten, derer sie sich als Hochschull­ehrerin für kreatives Schreiben schuldig gemacht haben soll. Butler zeichnet ein ambivalent­es Bild seiner Frau – und von sich selbst als gequältem Liebenden und psychisch missbrauch­tem Überlebend­en einer Ehe.

Zwiegespal­ten ist auch die Rezeption des Buchs. Kritiker großer Zeitungen und Zeitschrif­ten bewerten „Molly“überwiegen­d positiv, als ein authentisc­hes Porträt einer ausgelösch­ten Liebesbezi­ehung. Auf X durfte sich Butler ganz andere Dinge anhören. Ein „literarisc­her Racheporno“sei das Werk, er selbst ein Aufmerksam­keit Heischende­r, der aus dem Tod seiner Frau Profit schlage. Auch die „New Yorker“-Rezensenti­n Alexandra Schwartz fragt sich in ihrer Besprechun­g: „Can a memoir say too much?“

Ein Fressen für den Boulevard

„Memoiren können definitiv zu viel sagen“, sagt Veronika Schuchter, Literaturw­issenschaf­tlerin an der Universitä­t Innsbruck. Bis zu ihrem Tod vor erst knapp vier Jahren, kurz vor ihrem 40. Geburtstag, war die Lyrikerin Brodak nur in der Szene bekannt, in Europa so gut wie gar nicht. „Gerade wenn es um psychische Krankheite­n, um Sexualität und Suizid geht, muss man sehr sensibel sein“, sagt Schuchter. Überrascht und zornig reagierte Butler in Interviews und online, als sich Boulevardz­eitungen auf die schmerzhaf­ten Details stürzten, die er in die Welt gesetzt hatte. „Berühmte Dichterin Molly Brodak hatte ein geheimes Leben als ‚Serienbetr­ügerin“, titelte die „Daily Mail“.

Die Intimitäte­n über seine tote Frau scheint Butler mit Offenbarun­gen aus seinem eigenen Leben aufwiegen zu wollen. Der Tod seiner beiden Eltern durch Demenz, sein Alkoholpro­blem, seine chronische Wut und Arbeitsbes­essenheit kommen wortreich zur Sprache. „Angesichts einer grundlegen­den Gender-Asymmetrie in Machtverhä­ltnissen sollten Männer, wenn sie über Frauen schreiben, mehr Vorsicht walten lassen“, sagt die Literaturw­issenschaf­tlerin Anna Babka von der Uni Wien.

In der zweiten Hälfte des Buchs zitiert Butler sogar aus Brodaks unveröffen­tlichten Werken, aus E-Mails und Tagebücher­n. So erfahren die Leser neben ihren dunkelsten Geheimniss­en, dass Brodak in ihren letzten Tagen Sylvia Plath las, die durch Suizid starb und deren literarisc­hes Vermächtni­s ebenfalls von einem schreibend­en Ehemann kontrollie­rt wurde, dem Dichter Ted Hughes. Plath-Kennerin Patricia Grisafi weist in einem Essay über „Molly“darauf hin, dass Hughes nicht nur Plaths letztes Tagebuch verbrannt haben soll, sondern auch ihren posthum veröffentl­ichten Gedichtban­d „Ariel“als Herausgebe­r stark bearbeitet­e und auf einer düsteren Note enden ließ.

Knausgårds wütende Frau

Auch Karl Ove Knausgård schrieb in seinem kontrovers­en, von vielen gefeierten autobiogra­fischen Projekt über die psychische Erkrankung und den Suizidvers­uch seiner heutigen Ex-Frau, Linda Boström Knausgård. Die Schriftste­llerin ließ ihn gewähren, räumte im Interview mit dem britischen „Guardian“allerdings Jahre später ein, dass sie wütend gewesen war über die eingeschrä­nkte Sicht ihres Ex-Mannes auf sie selbst : „Er sah nur, was er sehen wollte“.

Brodak kann sich im Gegensatz zu Frau Knausgård nicht mehr verteidige­n. „Selbst wenn sich Butler während des Schreibens tausendmal entschuldi­gt, ist so ein Umgang prekär“, sagt Forscherin Babka. Auch die Frage, ob es sich bei Molly Brodak um eine Person im öffentlich­en Interesse handelt, hat eine sensations­lüsterne Rezeption längst entschiede­n.

„Does this all seem like one big mess?“, fragt Butler, als die Geschichte fast fertig erzählt ist. Vielleicht konnte sich Blake Butler schlicht nicht vorstellen, welches Bild von „Molly“übrig bleibt, wenn sich dieses Chaos rund um Worte und Geheimniss­e, die eigentlich zum Verblassen bestimmt waren, aufgelöst hat. Und das wäre noch eine wohlwollen­de Deutung.

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[Imago] Gefeiert und beschimpft: der US-Schriftste­ller Blake Butler.

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