Wann erzählen Autoren zu viel?
Der US-Schriftsteller Blake Butler hat ein kontroverses Buch über seine verstorbene Ehefrau geschrieben, die Dichterin Molly Brodak. „Molly“löst eine Debatte aus.
Das Buch beginnt mit einer Reihe von markerschütternden Szenen. Blake Butler kommt vom Joggen zurück und findet einen Zettel an die Haustür geklebt. „Blake, I have decided to leave this world“, steht darauf – der Beginn des Abschiedsbriefs von Butlers Frau, der Poetin Molly Brodak. Wenig später und noch am Telefon mit den bereits alarmierten Einsatzkräften findet er sie erschossen im Gras. Eine Fliege saugt bereits an der Einschusswunde unterm Kinn.
Auf etwas mehr als 300 Seiten skizziert Butler eine von Anfang an schwierige Beziehung zwischen zwei Künstlern bis ins letzte Detail. „Should I be allowed to make this said?“, fragt der Erzähler irgendwann in der Mitte – und tut es doch schon längst. Anfangs schreibt er noch von den Selbstmordfantasien seiner Partnerin, zitiert und paraphrasiert aus „Bandit“, Molly Brodaks zu Lebzeiten veröffentlichter Autobiografie über ihre schwierige
Kindheit als Tochter eines spielsüchtigen Bankräubers. Später erzählt er von ihren zahlreichen Affären und der Anbahnung sexueller Kontakte zu jungen Studenten, derer sie sich als Hochschullehrerin für kreatives Schreiben schuldig gemacht haben soll. Butler zeichnet ein ambivalentes Bild seiner Frau – und von sich selbst als gequältem Liebenden und psychisch missbrauchtem Überlebenden einer Ehe.
Zwiegespalten ist auch die Rezeption des Buchs. Kritiker großer Zeitungen und Zeitschriften bewerten „Molly“überwiegend positiv, als ein authentisches Porträt einer ausgelöschten Liebesbeziehung. Auf X durfte sich Butler ganz andere Dinge anhören. Ein „literarischer Racheporno“sei das Werk, er selbst ein Aufmerksamkeit Heischender, der aus dem Tod seiner Frau Profit schlage. Auch die „New Yorker“-Rezensentin Alexandra Schwartz fragt sich in ihrer Besprechung: „Can a memoir say too much?“
Ein Fressen für den Boulevard
„Memoiren können definitiv zu viel sagen“, sagt Veronika Schuchter, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Innsbruck. Bis zu ihrem Tod vor erst knapp vier Jahren, kurz vor ihrem 40. Geburtstag, war die Lyrikerin Brodak nur in der Szene bekannt, in Europa so gut wie gar nicht. „Gerade wenn es um psychische Krankheiten, um Sexualität und Suizid geht, muss man sehr sensibel sein“, sagt Schuchter. Überrascht und zornig reagierte Butler in Interviews und online, als sich Boulevardzeitungen auf die schmerzhaften Details stürzten, die er in die Welt gesetzt hatte. „Berühmte Dichterin Molly Brodak hatte ein geheimes Leben als ‚Serienbetrügerin“, titelte die „Daily Mail“.
Die Intimitäten über seine tote Frau scheint Butler mit Offenbarungen aus seinem eigenen Leben aufwiegen zu wollen. Der Tod seiner beiden Eltern durch Demenz, sein Alkoholproblem, seine chronische Wut und Arbeitsbesessenheit kommen wortreich zur Sprache. „Angesichts einer grundlegenden Gender-Asymmetrie in Machtverhältnissen sollten Männer, wenn sie über Frauen schreiben, mehr Vorsicht walten lassen“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Anna Babka von der Uni Wien.
In der zweiten Hälfte des Buchs zitiert Butler sogar aus Brodaks unveröffentlichten Werken, aus E-Mails und Tagebüchern. So erfahren die Leser neben ihren dunkelsten Geheimnissen, dass Brodak in ihren letzten Tagen Sylvia Plath las, die durch Suizid starb und deren literarisches Vermächtnis ebenfalls von einem schreibenden Ehemann kontrolliert wurde, dem Dichter Ted Hughes. Plath-Kennerin Patricia Grisafi weist in einem Essay über „Molly“darauf hin, dass Hughes nicht nur Plaths letztes Tagebuch verbrannt haben soll, sondern auch ihren posthum veröffentlichten Gedichtband „Ariel“als Herausgeber stark bearbeitete und auf einer düsteren Note enden ließ.
Knausgårds wütende Frau
Auch Karl Ove Knausgård schrieb in seinem kontroversen, von vielen gefeierten autobiografischen Projekt über die psychische Erkrankung und den Suizidversuch seiner heutigen Ex-Frau, Linda Boström Knausgård. Die Schriftstellerin ließ ihn gewähren, räumte im Interview mit dem britischen „Guardian“allerdings Jahre später ein, dass sie wütend gewesen war über die eingeschränkte Sicht ihres Ex-Mannes auf sie selbst : „Er sah nur, was er sehen wollte“.
Brodak kann sich im Gegensatz zu Frau Knausgård nicht mehr verteidigen. „Selbst wenn sich Butler während des Schreibens tausendmal entschuldigt, ist so ein Umgang prekär“, sagt Forscherin Babka. Auch die Frage, ob es sich bei Molly Brodak um eine Person im öffentlichen Interesse handelt, hat eine sensationslüsterne Rezeption längst entschieden.
„Does this all seem like one big mess?“, fragt Butler, als die Geschichte fast fertig erzählt ist. Vielleicht konnte sich Blake Butler schlicht nicht vorstellen, welches Bild von „Molly“übrig bleibt, wenn sich dieses Chaos rund um Worte und Geheimnisse, die eigentlich zum Verblassen bestimmt waren, aufgelöst hat. Und das wäre noch eine wohlwollende Deutung.