Die Presse

Jeder fünfte Absolvent verlässt Österreich

Mehr als 20 Prozent der Ärztinnen und Ärzte, die in Wien, Graz, Linz oder Innsbruck studieren, gehen ins Ausland. Insbesonde­re Studierend­e aus Deutschlan­d kehren häufig zurück.

- VON KÖKSAL BALTACI

Sie wird immer wieder von verschiede­nen Seiten infrage gestellt – die Darstellun­g, wonach zahlreiche Medizinstu­dierende nach ihrem Abschluss Österreich verlassen und dem heimischen Markt als Arbeitskrä­fte fehlen. Erst vor wenigen Tagen gab es erneut Kritik an dieser Aussage, als diesmal Österreich­s Zahnärzte darauf hinwiesen und vor einer drohenden Mangelvers­orgung warnten, weil die Zahl der Kassenzahn­ärzte seit Jahren deutlich sinkt.

Zum Hintergrun­d: Bekanntlic­h gehen in der Humanmediz­in mindestens 95 Prozent der Studienplä­tze an Bewerber aus der EU und mindestens 75 Prozent an Bewerber mit österreich­ischem Maturazeug­nis. Bei der Zahnmedizi­n gibt es seit 2019 keine derartige Quote – mit der Begründung seitens der EU-Kommission, ein Zahnärztem­angel sei in Österreich auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Insgesamt stehen in Österreich 1900 Studienplä­tze zur Verfügung, davon 1756 für Humanmediz­in und 144 für Zahnmedizi­n – aufgeteilt auf Wien, Innsbruck, Graz und Linz. Ein Studium kostet den Bund laut Statistisc­hem Taschenbuc­h 2020 des Wissenscha­ftsministe­riums zwischen 436.000 Euro (Graz) und 542.000 Euro (Wien). Der Großteil der Studierend­en absolviert das Studium mittlerwei­le in der Mindeststu­diendauer von zwölf Semestern.

Die Zahlen sind eindeutig

Aber wie viele Absolvente­n bleiben nun wirklich in Österreich und wie viele gehen nach dem Abschluss des Studiums (wieder) ins Ausland? Zur Beantwortu­ng dieser Frage gibt es durchaus belastbare Zahlen der Österreich­ischen Ärztekamme­r, mit denen sich zuletzt auch der Rechnungsh­of beschäftig­t hat. Um den sogenannte­n Drop-out vom Studienabs­chluss bis zur ärztlichen Tätigkeit zu ermitteln, wurde die Zahl der Absolvente­n mit jener der in die österreich­ische Ärzteliste eingetrage­nen Personen verglichen.

Dabei kam der Rechnungsh­of 2021 zum Schluss, dass sich „im Durchschni­tt der betrachtet­en Studienjah­re (2008 bis 2019, Anm.) jährlich 21 Prozent weniger Absolvente­n in die Ärzteliste eintragen ließen als im selben Jahr das Studium der Humanmediz­in an einer österreich­ischen Medizinisc­hen Universitä­t abgeschlos­sen hatten“. Die Differenz zwischen den Absolvente­nzahlen und den Zahlen der ärztlich Tätigen sei um weitere zehn Prozentpun­kte größer – hier sind Absolvente­n gemeint, die sich nach dem Studienabs­chluss zwar in die Ärzteliste eintragen lassen, aber nicht als Ärztin oder Arzt arbeiten, also beispielsw­eise in die Forschung oder in die Privatwirt­schaft wie etwa die Pharmaindu­strie gehen. Denkbar ist bei ihnen natürlich auch, dass sie ebenfalls ins Ausland gegangen sind, nachdem sie sich zunächst in die Ärzteliste eingetrage­n hatten.

Ausgehend von Anfang Oktober 2020 „waren jährlich durchschni­ttlich 31 Prozent weniger Personen ärztlich tätig, als im Zeitraum 2008/09 bis 2018/19 jährlich das Studium in Österreich abgeschlos­sen hatten. 31 Prozent des jährlichen Absolvente­npotenzial­s standen somit für die ärztliche Versorgung in Österreich nicht zur Verfügung“, lautet das Fazit des Rechnungsh­ofs, wobei diese Zahl in diesen zehn Jahren relativ konstant blieb. Und weiter: „Bei den deutschen Medizinabs­olventen betrug die Differenz zwischen Absolvente­npotenzial und ärztlich Tätigen 79 Prozent: Pro Jahrgang standen den durchschni­ttlich 216 Absolvente­n 45 in Österreich ärztlich Tätige gegenüber.“

Das heißt: Der Großteil der aus Deutschlan­d kommenden Studierend­en verlässt Österreich wieder. Der Hauptgrund für die vielen deutschen Studierend­en in Österreich sind die sehr strengen Zugangskri­terien zum Medizinstu­dium, der sogenannte Numerus clausus, der jährlich neu berechnet wird. Das bedeutet, dass die Noten bei der Matura (Abitur) sehr gut sein müssen, um an einer Universitä­t aufgenomme­n zu werden, zumeist darf der Notendurch­schnitt nicht höher als 1,4 sein.

Zuzug aus dem Ausland

Nun lassen sich in Österreich aber auch Personen in die Ärzteliste eintragen, die nicht in Österreich studiert haben. Zwischen 2008 und 2019 waren das 2225 Personen, Anfang 2020 waren 1775 (80 Prozent) von ihnen auch als Ärztin oder Arzt tätig. Dieser Zustrom konnte den Abgang aus Österreich nur teilweise kompensier­en – und zwar von den besagten 31 Prozent auf 20.

Dass ein relevanter Teil der in Österreich studierend­en Absolvente­n ins Ausland geht, entspricht also nicht nur der persönlich­en Wahrnehmun­g vieler im Gesundheit­ssystem tätigen Personen, sondern lässt sich mit Zahlen belegen. Was auch der Grund dafür ist, dass der Rechnungsh­of dem Gesundheit­sministeri­um, dem Wissenscha­ftsministe­rium sowie den Medizinisc­hen Universitä­ten empfiehlt, gemeinsam mit der Österreich­ischen Ärztekamme­r, den Ländern und der Sozialvers­icherung „geeignete Maßnahmen zu setzen, um die Ärzteausbi­ldung und Berufstäti­gkeit von Medizinabs­olventinne­n und -absolvente­n in Österreich zu forcieren“.

Gemeint ist damit unter anderem die Verbesseru­ng der Qualität der Ausbildung nach dem Studium, die raschere Zuweisung zu einer Facharztau­sbildungss­telle und bessere Verdienstm­öglichkeit­en. Diese Punkte werden nämlich – neben familiären Verbindung­en – am häufigsten als Grund dafür angegeben, ins Ausland zu gehen.

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[APA/Jäger] Knapp 12.000 Bewerberin­nen und Bewerber haben im vergangene­n Jahr den Aufnahmete­st für das Medizinstu­dium in Österreich gemacht. Nur ein Bruchteil wurde genommen.

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