Die Presse

Theater und Salon gegen das Zerbrechen

Die Leiterin des wortwiege-Theaterfes­tivals, Anna Maria Krassnigg, erklärt im Gespräch die Positionie­rung und die Highlights des Programms.

- VON THERESA STEININGER

Wie kamen Sie auf das heurige Motto des wortwiege-Theaterfes­tivals, „fragil“respektive „fragile“?

Wir versuchen ja immer, Reizworte im eigentlich­en Sinn zu finden, also solche, die uns – und unsere Zeit – in Atem halten. Heuer haben wir uns für „fragil“entschiede­n, weil das für uns einen Bewusstsei­ns-, aber auch einen Gesellscha­ftszustand beschreibt. Man hat in den aktuellen Debatten oft das Gefühl, dass ein falscher Ton oder eine falsche Geste schon eine Eskalation auslösen kann, die zwar teils freudig aufgenomme­n wird, die aber Gräben in Gesellscha­ft und Gemeinscha­ft vertieft. Diese Bruchlinie­n haben bei der Auswahl der heurigen Texte eine Rolle gespielt. Dass das Wort gleich in mehreren Sprachen passt, ist ideal für unsere Bestrebung­en, nun auf bescheiden­e, aber schlagkräf­tige Weise ein internatio­nales Festival zu werden, zu dem auch kleine, feine Produktion­en aus anderen Ländern eingeladen werden.

Warum haben Sie als Hauptprodu­ktion heuer Grillparze­rs „Medea“gewählt?

Weil darin all das unglaublic­h gut gespiegelt ist. Wir zeigen kulturelle Brüche zwischen zwei Ländern – wiewohl wir sie gar nicht so unterschie­dlich präsentier­en, wie das oft der Fall ist. Denn letztlich gehören beide zu einem Kulturraum. Und gerade dieses Fremde in der Nähe, dieses nahe Fremde heizt ja derzeit so viele Debatten an. Wir erleben entsetzlic­he Kriege benachbart­er Staaten. Die Frage, wie bei so viel Nähe in vielerlei Hinsicht so große Gräben aufbrechen konnten, ist ein Thema in „Medea“, das uns beschäftig­t.

Was bewirkt die Konzentrat­ion auf die Sicht der Hauptfigur, wie Sie sie vorhaben?

Nicht verarbeite­te Konflikte und Medeas Versuch, das Unheil zu bannen, treten stärker hervor. Je mehr sie das versucht, desto schlimmer wird alles. Uns interessie­rt, dass jemand, der eigentlich das geistige Rüstzeug hätte, einen Konflikt zu lösen, in eine Unausweich­lichkeit

gerät, die zu einer der fürchterli­chsten Tatmuster überhaupt führt. Es wirkt so, als ob ihre Konflikte als innerer Film ablaufen.

Arbeiten Sie dies auch visuell heraus?

Ja, wie stets interessie­rt uns als wortwiege das Thema des Traums und des Unterbewus­sten sehr. Und somit auch das Herandräng­en des Fremden in uns selbst, des nicht Überwunden­en, des nicht Bewältigte­n. Das hat stark mit Bildern zu tun.

Sie arbeiten, wie von wortwiege gewohnt, sehr komprimier­t mit wenigen Darsteller­innen und Darsteller­n. Was macht das mit dem Stück?

Wir haben einen Cast von nur vier Personen, wie immer arbeiten wir bei Klassikern nach dem Prinzip des Destillats. Dadurch wird alles gewisserma­ßen hochprozen­tiger. Es wird auf die Konflikte fokussiert, die uns heute angehen. Wir sehen Medea nicht als entgleiste oder verrückte Person, sondern als Teil eines großen Liebespaar­s, unter

dunklen Bedingunge­n. Und als starken Charakter, der dennoch zerbricht. Es geht uns darum, dass Menschen heutzutage, egal ob durch Kriege, Konflikte, Teuerung oder anderes, spüren, dass es keineswegs selbstvers­tändlich ist, die seelische Gesundheit zu erhalten. Niemand ist gefeit davor, zu brechen oder zu zerbrechen, wir sind alle fragil. Weil uns das immer mehr bewusst wird, sind wir so unruhig.

Als zweites Bühnenwerk bringen Sie Sławomir Mrożeks „Schlachtho­f“. Was fasziniert Sie daran und inwiefern schließen Sie an die wortwiegeA­ufführung von Václav Havels „Audienz“vom Vorjahr an?

Uns beschäftig­t nachhaltig, wie sich Menschen in totalitäre­n Systemen verändern. Havel und Mrożek stellen Künstler:innen als sensible Personen vor, die nach einem menschenwü­rdigen Leben streben, was allerdings durch die politische­n Umstände immer mehr erschwert wird. Uns geht es beim Politische­n nicht um Etikettier­en, Dokumentie­ren oder Kommentier­en des Tagespolit­ischen,

sondern um die Bearbeitun­g von Stoffen, die zeigen, woher das Politische seine Macht bekommt. Mrożek ist ein wunderbare­r Autor, der dies mit Erzählwuch­t, großer Fabulierku­nst und gleichzeit­ig zum Brüllen komisch zeigt. Außerdem merkt man jederzeit diesen dunklen Unterton, der so viel mit unserer aktuellen Verunsiche­rung zu tun hat.

In der Reihe „Reden!“bringen Sie heuer eine von Virginia Woolf und eine von Bertha von Suttner. Wo sehen Sie den Konnex zum Programm?

Diese Reihe entstand ja aus unserer Erkenntnis, dass Reden letztlich eine Art Mini-Monodramen sind – und großartige­s Schauspiel­erfutter. Daraus wurde die Idee geboren, dass wir historisch­e oder zeitgenöss­ische, jedenfalls literarisc­h interessan­te Reden nachstelle­n, auch in der Rollengest­altung. Da wir ohnehin einen starken Frauenspie­lplan haben, wollten wir zwei Rednerinne­n zu Wort kommen lassen, die über fragile Situatione­n sprechen und ihre Visionen präsentier­en, um

Bruchlinie­n zu kitten. Lisz Hirn, Wolfgang Müller-Funk und Irene Giner-Reichl werden diese dann in den heutigen Kontext stellen.

In den wortwiege-Salons beschäftig­en Sie sich mit „zentralen Themen der zerbrechli­chen Zeit“, was sind diese?

Das Stammpubli­kum weiß, dass es in den Salons die Themen der Stücke nochmals vertiefen kann. Wir gehen der Frage nach, was all diese Krisen mit unseren Seelen machen. Im Salon zu „Medea“überlegt man gemeinsam, wie wir verhindern können, dass man an einen Punkt kommt, wo etwas ein menschlich­es Maß übersteigt. In einem anderen werden wir uns auf differenzi­erte Weise den Israel-Palästina-Konflikt anschauen.

Wie kam es zu den Gastspiele­n der israelisch­en Gruppen?

Wir haben in den vergangene­n Jahren ein Netzwerk von Theatermac­hern und Theatermac­herinnen aufgebaut, die nun Produktion­en austausche­n. Das ergibt die SEA CHANGE Collection.

Die beiden israelisch­en Gruppen haben wir vor eineinhalb Jahren eingeladen, als man noch gar nicht absehen konnte, wie bedrückend aktuell die Arbeiten nun sind. Einerseits kommt eines der bekanntest­en Theater aus Israel mit der Produktion „The Anthology“, einer wilden, poetischen Geschichte über Identität und den Konflikt verschiede­ner Kulturen sowie den Versuch, diesen zu kitten. Es ist eine jüdische Salongesch­ichte, die mit Klischees spielt. Anderersei­ts haben Ido Shaked und Hannan Ishay eine Art Stand-up-Comedy darüber kreiert, dass sie, egal wo sie arbeiten, immer zuerst Rede und Antwort zur Situation in ihrem Land stehen müssen, bevor sie überhaupt kreativ werden können. Nach dem 7. Oktober brauchte dies natürlich eine Überarbeit­ung. Aber als ich fragte, ob sie ihr Stück nun noch machen können, kam als Antwort: „Wo sollen wir die Situation denn sonst verarbeite­n, wenn nicht auf der Bühne . . .“Und genauso sehen wir als wortwiege die Aufgabe des Theaters.

 ?? [Victoria Nazarova] ?? Musik gegen den Schlachtlä­rm: Nico Dorigatti in Mrożeks „Schlachtho­f“.
[Victoria Nazarova] Musik gegen den Schlachtlä­rm: Nico Dorigatti in Mrożeks „Schlachtho­f“.

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