„Ein politischer Mord“
Dreieinhalb Jahre nach der versuchten Vergiftung ist Alexej Nawalny, der Gefangene Nummer eins, in der Strafkolonie gestorben.
Es ist eine Nachricht, die sich für Weggefährten, für Journalisten und Aktivistinnen, im In- wie im Ausland, so anfühlt wie der 24. Februar 2022, der Beginn des Ukraine-Kriegs. Alexej Nawalny ist tot. Das teilte die russische Gefängnisbehörde FSIN am Freitagnachmittag mit. Nach einem Spaziergang in der Strafkolonie „Polarwolf“im Dörfchen Charp hinter dem Polarkreis, in dem der 47-Jährige seit Weihnachten einsaß, sei Nawalny zusammengebrochen. „Um 14.17 Uhr (Ortszeit) stellten die Ärzte den Tod fest“, hieß es. Nach unbestätigten Angaben soll sich ein Blutgerinnsel gelöst und zum Tod geführt haben.
Moskauer Ärzte seien für eine forensische Untersuchung in die Region der JamalNenzen aufgebrochen – rund 3600 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt –, verlautete die FSIN. Auch Nawalny-Anwalt Leonid Solowjow sei nach Charp unterwegs, schrieb Nawalny-Sprecherin Kira Jarmysch auf der Plattform X. „Alexei hatte am Mittwoch einen Anwalt bei sich. Da war alles normal“, teilte Solowjow mit. „Wir haben ihn am 12. Februar bei einem Treffen im Gefängnis gesehen. Er war lebendig, gesund und glücklich“, schrieb Nawalnys Mutter, Ljudmila Nawalnaja, auf Facebook.
Qualen, die kein Mensch aushält
Alexej Nawalny, der im August 2020 einen Anschlag mit dem Nervengiftgas Nowitschok überlebt hatte, mutmaßlich von russischen Geheimdiensten ausgeführt, bezahlte seinen unerschrockenen Kampf gegen den russischen Präsidenten, Wladimir Putin, nun doch mit dem Leben. 27 Mal war er in den vergangenen Monaten in Isolationshaft. Nawalnys Ärzte sprachen immer wieder davon, dass die drei Jahre andauernden Qualen kaum ein Mensch aushalten könne.
Russlands Liberale wie Politiker im Westen bezeichneten Nawalnys Tod als „politischen Mord“. „Es fühlt sich an, als hätte noch ein Krieg begonnen“, schrieb der russische Journalist Alexander Tschernych in seinem Telegram-Kanal. „Ich habe keine Worte, ich habe nur Hass“, meinte der russischsprachige, estnische Philologe Roman Leibow. „Die Verantwortung für seinen Tod hat allein Putin, unabhängig vom formalen Grund“, so Michail Chodorkowski, ehemaliger Ölmagnat und Putins früherer Feind Nummer eins.
In Moskau legten Menschen Nelken und Rosen vor dem Haus ab, in dem Nawalny vor seiner Vergiftung gewohnt hatte. In europäischen Städten hielten Menschen Plakate in der Hand. „Putin ist ein Killer“, stand darauf. Russlands Propagandistinnen hingegen ätzten: „Der Westen ist selbstentlarvend. Es gibt noch keine forensische Untersuchung, aber der Schuldige steht für sie schon fest.“
Das schrieb Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums. Ein Wort des Beileids kam weder von Putin noch von Dmitrij Peskow, seinem Sprecher.
Eine unabhängige Untersuchung in einem geschlossenen System wie einer russischen Strafkolonie, zumal von einem, der offiziell als „Feind“, „Extremist“und „Verräter“wahrgenommen wird und dessen Namen Putin nicht einmal in den Mund nimmt, dürfte kaum zu erwarten sein.
Noch am Tag vor seinem Tod war Nawalny per Videoschaltung während einer Gerichtsverhandlung so aufgetreten, wie er es all die Jahre getan hatte: gelassen, gewitzt, gelöst. Keine Schikane ließ ihm seine Ironie nehmen. Er kämpfte, abgemagert und stark geschwächt, auch noch aus seinem Gefängniskäfig entschlossen für ein demokratisches Russland. Für ein Russland ohne Putin und mit freien Wahlen. Einen Monat vor Russlands „Wahl“am 17. März, vor Putins fünfter Wiederbestätigung als Präsident, hat ihn die Staatsmacht ins Grab gebracht.
Putins Regime hatte lang vor dem Krieg in der Ukraine, den Nawalny aufs Schärfste verurteilte, seinen Kritikern mit aller Macht klarzumachen versucht: „Legt euch nicht mit uns an.“Nawalny war der bekannteste russische Oppositionelle, der gegen diese Formel immer wieder verstoßen hatte. 2011 war er als Antikorruptionskämpfer gestartet, um die Bereicherung von hohen Beamten aufzuspüren – und wurde mit der Zeit immer politischer. Im ganzen Land entstanden Nawalny-Büros.
Er fand schnell die Sprache, die vor allem von der Jugend als die ihre anerkannt wurde. Endlich einer, der sich etwas traue, einer, der etwas bewegen wolle, sagten sie. Nawalny, selbstbewusst, realistisch und kompromisslos, konnte fesseln. Auch wenn er mit seiner besserwisserischen Art viele Menschen vor den Kopf stieß, hörten sie zu. Er gab vielen Russinnen und Russen die Möglichkeit, an Veränderungen zu glauben.
Ein Hoffnungsträger
Er war ihr Hoffnungsträger. Eine Projektionsfläche. Ihr Anti-Putin, der zugänglich war. Der sich mit seiner Tochter, Dascha, und seinem Sohn, Sachar, ablichten ließ, der seine Frau, Julia, vor allen Kameras küsste, auch dann, wenn Polizisten ihn wieder einmal abführten. Nawalny verschwand für Wochen in Arrestzellen und kam lächelnd wieder heraus.
Das Regime nahm dann Rache an einem Unbeugsamen: mit Nowitschok zunächst (Nawalny überlebte knapp), danach mit jahrelangen Haftstrafen. Nach seinem Klinikaufenthalt in Deutschland war der Politiker nach fünf Monaten im Jänner 2021 zurück nach Russland geflogen. Er wollte auf diese Weise zeigen, dass er bei den Menschen in seinem Land ist, dass er aus dem Land heraus für die Freiheit kämpft.
Im Exil, so machte er deutlich, könne er seinem politischen Anspruch schlicht nicht gerecht werden. Er wollte eine glaubwürdige Identifikationsfigur sein. Der Staat forderte drei Jahre, neun Jahre, schließlich 19 Jahre. Wegen Betrugs, Veteranenbeleidigung, Veruntreuung, Verherrlichung des Nazismus, wegen Extremismus. Was ihm wirklich vorgeworfen wurde, wussten auch die klügsten Juristen nicht. Der Störer des Systems sollte einfach verschwinden. Nawalny wurde an den Rand der menschlichen Zivilisation abgeschoben.
Nawalny, der stets Willensstarke und ironisch Feixende, hat es nicht aus der „Hölle“geschafft, als die die Strafkolonien gelten. Seinen Anhängern ließ Alexej Nawalny seine feste Überzeugung zurück: „Gebt niemals auf!“