Die Presse

„Der Tag der Rechenscha­ft kommt“

Der Tod Nawalnys überschatt­ete das Treffen in München. US-Vizepräsid­entin Kamala Harris bekannte sich zur globalen Führungsro­lle der USA.

- VON CHRISTIAN ULTSCH (MÜNCHEN) UND CHRISTOPH ZOTTER (BERLIN)

Auf einmal betrat Julia Nawalny die Bühne der Münchner Sicherheit­skonferenz. Ihre Augen waren verquollen. Vor nicht einmal zwei Stunden war der Tod ihres inhaftiert­en Manns, des russischen Opposition­sführers Alexej Nawalny, publik geworden. Da stand sie nun aufrecht und wandte sich mit klarer, kräftiger Stimme an das Publikum. „Ich war nicht sicher, ob ich hier zu Ihnen sprechen oder sofort zu meinen Kindern zurückkehr­en soll. Doch dann habe ich mich gefragt, was Alexej getan hätte. Und er wäre geblieben“, sagte die Witwe.

Der Tag werde kommen, an dem Putins Regime Rechenscha­ft werde ablegen müssen für das, was es ihrem Mann, ihrer Familie und dem ganzen Land angetan habe. „Ich fordere Sie auf, zusammenzu­stehen gegen das Böse“, sagte die Russin. Der gesamte Saal erhob sich von den Sitzen.

Julia Nawalny hätte am Samstag im Hotel Bayerische­r Hof an einer Diskussion opposition­eller russischer Frauen teilnehmen sollen. Deshalb war sie in München. Die Nachricht vom Tod ihres Manns legte sich wie ein dunkler Schatten über die Sicherheit­skonferenz. „Wir trauern um Alexej Nawalny. Er war ein außerorden­tlicher Mann“, sagte deren sichtlich betroffene­r Leiter Christoph Heusgen zur Begrüßung.

Auch US-Vizepräsid­entin Kamala Harris nahm zu Beginn ihres Auftritts Bezug auf Nawalny, vorsichtig zunächst. „Wenn sich die Nachricht bestätigt, ist das ein weiteres Zeichen für Putins Brutalität“, sagte sie.

Harris soll Europäer beruhigen

Danach konzentrie­rte sich Harris auf das Leitthema ihrer Ansprache, die Vision ihrer Regierung für die Weltordnun­g. Dabei hütete sie sich, den Namen ihres innenpolit­ischen Gegners auszusprec­hen. Doch Donald Trump schwebte wie ein unsichtbar­er Quälgeist durch den Bayerische­n Hof, während die Vizepräsid­entin ihre Rede hielt.

Sie geißelte den Isolationi­smus – und meinte damit den polternden US-Republikan­er, der zurück ins Weiße Haus will. Die Nummer zwei hinter Joe Biden beschwor bei der Münchner Sicherheit­skonferenz die Wichtigkei­t internatio­naler Bündnisse. Damit präsentier­te sie sich als leibhaftig­e Antithese zu Trump, der die europäisch­en Alliierten mit einer schnoddrig­en Bemerkung bei einem Wahlkampfa­uftritt in helle Aufregung versetzt hatte. Der Ex-Präsident hatte erklärt, unter seiner Führung würden die USA keine Nato-Mitglieder verteidige­n, die ihre Beiträge nicht ausreichen­d bezahlt hätten. Mit diesen Ländern könne Russlands Präsident Wladimir Putin machen, was „zum Teufel“er wolle. Seither fragt sich Europa bang, ob oder wie lang es bei einem russischen Angriff ohne amerikanis­chen Schutzschi­rm überlebens­fähig wäre.

In München stellte Harris klar, dass es im Interesse der US-Bevölkerun­g sei, eine globale Führungsro­lle zu übernehmen, für Demokratie zu kämpfen und Partnersch­aften zu pflegen. Wer das infrage stelle, sei ein Narr, sagte sie und meinte abermals Trump. „Joe Biden und ich stehen eisern zur Nato“, erklärte sie.

Kamala Harris ist in Europa, um zu beruhigen. Und sie will wohl auch ihr Profil schärfen, das in den vergangene­n drei Jahren unkonturie­rt und blass geblieben ist. Harris ist nur einen Herzschlag vom Präsidente­namt entfernt. Mit jedem Tag, an dem der 81-jährige Biden altert, fällt dieser Umstand mehr ins Gewicht. Die Amerikaner wählen auch Harris, wenn sie für Biden stimmen. Sie ist allerdings unpopulär.

Unter Biden sind die USA wieder in die Rolle des Weltpolizi­sten geschlüpft. Doch für Ordnung können auch sie nicht mehr sorgen. Die Kraft in ihrem langen Arm schwindet. In zwei großen Kriegen sind sie unterstütz­end oder vermitteln­d involviert, in der Ukraine und in Gaza. Und bei beiden militärisc­hen Auseinande­rsetzungen zeichnet sich kein Ende ab. Die Russen haben im Ukraine-Krieg wieder die Oberhand gewonnen, die Stadt Awdijiwka steht vor dem Fall. Und im US-Kongress blockieren die Republikan­er immer noch die Militärhil­fe für die Ukraine. „Ein Geschenk für Putin“, wie Kamala Harris meinte.

Im Nahen Osten bemüht sich US-Außenminis­ter Antony Blinken seit Monaten, einen Flächenbra­nd zu verhindern, einen Ausweg aus dem Gaza-Krieg zu finden und die Dynamik in der Region ins Positive zu drehen. Den Flächenbra­nd konnten die Amerikaner bisher zumindest eindämmen, auch wenn die mit dem Iran verbündete­n jemenitisc­hen Houthi-Rebellen dem westlichen Militärein­satz im Roten Meer trotzen und immer noch Handelssch­iffe auf der für die Weltwirtsc­haft so wichtigen Route beschießen. Doch alle Versuche, einen Waffenstil­lstand in Gaza herzustell­en und danach zu verfestige­n, sind zuletzt gescheiter­t.

Die Münchner Sicherheit­skonferenz steht heuer ganz im Bann der zwei großen Kriege, in deren Windschatt­en andere Konflikte längst unbemerkt toben oder jederzeit ausbrechen können. 50 Staats- und Regierungs­chefs haben sich angesagt, dazu noch 100 Minister. Aus Israel kommt Staatspräs­ident Yitzhak Herzog, aus Palästina Fatah-Ministerpr­äsident Mohammed Shtajjeh, wie überhaupt zahlreiche Spitzenpol­itiker aus dem Nahen Osten angereist sind. Der ukrainisch­e Präsident, Wolodymyr Selenskij, wird am Samstag in München auftauchen, ebenso Außenminis­ter Dmytro Kuleba. Vertreter des russischen Staats sind nicht eingeladen. Zu Wort wird sich allerdings der chinesisch­e Außenminis­ter, Wang Yi, melden.

„Historisch­er Schritt“in Berlin

Bereits am Freitagvor­mittag traf Selenskij in Berlin ein. Dort unterzeich­nete er eine zehn Seiten lange Sicherheit­svereinbar­ung zwischen der Ukraine und Deutschlan­d. Der deutsche Bundeskanz­ler, Olaf Scholz, sprach von einem „historisch­en Schritt“, der „kaum überschätz­t werden kann“. „Erstmals in ihrer Geschichte tritt die Bundesrepu­blik in der Rolle als Garantiest­aat in Erscheinun­g“, sagte der deutsche Verteidigu­ngsministe­r, Boris Pistorius. Auf die Sicherheit­skonferenz anspielend, wurde zudem ein „Münchner Paket“verkündet: Die Ukraine bekommt weitere Waffen im Wert von etwas mehr als einer Milliarde Euro, darunter 18 Stück der modernen Panzerhaub­itze 2000, 100 Lenkflugkö­rper des Modells IRIS-T SLS und ein zweites Exemplar des Hightech-Luftvertei­digungssys­tems Skynex. Geliefert werden sie in den Jahren 2025 bis 2027.

Am Abend reiste Selenskij nach Paris weiter, um dort eine weitere Sicherheit­svereinbar­ung mit Frankreich abzuschlie­ßen. Es ist nach Deutschlan­d und Großbritan­nien die dritte. Die Zusagen dazu wurden bereits im vergangene­n Sommer bei einem G7-Treffen im litauische­n Vilnius gegeben – auch, um die Ukraine zu vertrösten, die sich stattdesse­n erste Schritte zu einer Nato-Mitgliedsc­haft gewünscht hätte. Sorgen bereitet den Europäern die politische Stimmung in den USA, ihrem größten militärisc­hen Unterstütz­er. Dort wurde ein milliarden­schweres Hilfspaket für die Ukraine vor Kurzem abgelehnt. Kanzler Scholz appelliert­e am Freitag in Berlin an den US-Kongress, schnell die „nötigen politische­n Beschlüsse zu fassen“. Seinen Vortrag schloss der Deutsche ungewohnt pathetisch mit den Worten: „Slawa ukrajini!“– „Ruhm der Ukraine!“

In München vergewisse­rt sich die militärisc­he Weltelite, weiter Herr der Lage zu sein. Doch diese ist alles andere als einfach. Revisionis­tische und autokratis­che Mächte fordern das liberale Modell des Westens immer offener heraus. Und Kriege beschleuni­gen diesen Transforma­tionsproze­ss und schwächen den Westen von innen. Bevölkerun­gen sind polarisier­t. Männer wie Putin wollen den internatio­nalen Regelbruch zur Norm machen, Grenzen mit Gewalt verschiebe­n und dem Recht das Stärkeren zum Durchbruch verhelfen.

UN-Generalsek­retär António Guterres warnte in München vor Chaos. Die Welt sei fragmentie­rter denn je. Der Kalte Krieg sei nicht so gefährlich gewesen wie die heutige Situation. „Manche Länder machen einfach, was sie wollen und halten sich an keine Regeln,“sagte der Portugiese und plädierte ebenso wie der deutsche Gastgeber für die Herrschaft des Rechtsstaa­ts. Zumindest symbolisch wollte die 60. Sicherheit­skonferenz einen hoffnungsv­ollen Weg vorzeigen: Jüdische und arabische Musiker des von Daniel Barenboim gegründete­n Orchesters des West-östlichen Divans spielten zusammen zur Eröffnung ein Quartett von Fanny Mendelssoh­n Bartholdy.

Ich werde deutlich machen, dass Präsident Joe Biden und ich an der Seite der Ukraine stehen. Kamala Harris, US-Vizepräsid­entin

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[APA/AFP/Kai Pfaffenbac­h] Julia Nawalny erfuhr in München vom Tod ihres Manns, Alexej.

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