Die Presse

Tschetsche­nen: Eine eigene Welt

Gewalt, Sittenwäch­ter, Emanzipati­on über den Arbeitsmar­kt: Der „Presse“liegen die Ergebnisse einer Studie zur Lebensreal­ität von Tschetsche­nen in Österreich vor.

- VON ELISABETH HOFER

Sie sind eine Gruppe, die als schwierig gilt, von der in Medienberi­chten immer wieder in Zusammenha­ng mit Gewalttate­n die Rede ist, und über die man – abgesehen davon – in Österreich recht wenig weiß. Dabei befindet sich im Europa-Vergleich mit 30.000 bis 40.000 Personen eine der größten tschetsche­nischen Bevölkerun­gsgruppen in Österreich. In Frankreich sind es etwa 60.000 Personen. In den Statistike­n scheinen Tschetsche­nen als russische Staatsbürg­er auf. Bis ins Jahr 2022 war aber laut Experten beim Großteil der Asylwerber aus der Russischen Föderation davon auszugehen, dass es sich um Tschetsche­nen handelt. Im vergangene­n Jahr hat der Österreich­ische Integratio­nsfonds (ÖIF) aus den eingangs genannten Gründen das Internatio­nal Centre for Migration Policy Developmen­t (ICMPD) beauftragt, eine qualitativ­e Studie zur Lebensreal­ität von Tschetsche­nen in Österreich durchzufüh­ren.

Die Ergebnisse der Studie liegen der „Presse“nun vor. Sie liefern, wenn auch nicht repräsenta­tiv für die gesamte Gruppe, Erklärunge­n, warum gerade Bildung und Arbeitsmar­ktintegrat­ionen für Tschetsche­nen in Österreich eine große Herausford­erung sind, und warum Gewalt, auch innerhalb der Familie, unter Tschetsche­nen ein großes Thema ist.

Anders als andere migrantisc­he Gruppen verfügen Tschetsche­nen in Österreich meist nicht über große Netzwerke über die eigene Kernfamili­e hinaus. „Der Fokus auf die eigene Familie ergibt sich auch aus der politische­n und der Kriegssitu­ation in Tschetsche­nien. Die Menschen haben gelernt, niemandem außerhalb ihres engsten Kreises zu trauen“, sagt Martin Hofmann, einer der Studienaut­oren. Das traditione­lle Gewohnheit­srecht „Adat“spielt eine wichtige Rolle, indem es soziales Verhalten innerhalb der Familie, in der Gemeinscha­ft und in der Öffentlich­keit regelt. Es sieht unter anderem eine strikte Trennung des Privaten und Öffentlich­en, eine Geschlecht­ertrennung und ein traditione­lles patriarcha­les Familienmo­dell vor. Männer gelten als Ernährer und Beschützer der Familie, Frauen sind für das Private, den Haushalt und die Familie zuständig.

Die Einhaltung der gesellscha­ftlichen Regeln wird von „Sittenwäch­tern“gewisserma­ßen supervisie­rt. Die jüngere Generation, speziell junge Frauen, haben laut Studie aber oft den Wunsch, sich aus dem traditione­llen Rollenbild zu emanzipier­en. Das führt mitunter zu Konflikten in den Familien. „Gewalt war in praktisch jedem Interview ein Thema, auch innerhalb der Familie“, sagt Hofmann. Der ÖIF bietet in Frauenzent­ren Hilfe für betroffene Frauen an.

Rolle der Religion

„Das Sittenwäch­tertum ist aber nicht in der Religion begründet. Religion wird stark als Privatsach­e empfunden“, sagt Hofmann. Gleichzeit­ig seien zwei religiöse Gebote für viele Tschetsche­nen kaum verhandelb­ar: das Tragen des Kopftuchs und die täglichen Pflichtgeb­ete.

Dass viele junge Männer unter bestimmten Umständen auch bereit sind, Konflikte mit Gewalt zu lösen, ergibt sich aus einem bestimmen Männlichke­itsbild: „Gerade wenn der eigene sozioökono­mische Status niedrig ist, wird Kampfberei­tschaft zum Ideal einer Art Hypermännl­ichkeit. Viele der Jungen sehen für sich auch eine Zukunft im profession­ellen Kampfsport­eln“, erklärt Hofmann. Gerade unter den tschetsche­nischen Männern ist die Beschäftig­ungsquote im Vergleich zu anderen Zuwanderun­gsgruppen geringer. Die Arbeitslos­enquote der Russen in Österreich liegt bei rund 20 Prozent. Grundsätzl­ich haben viele Tschetsche­nen in Österreich das Ziel einer akademisch­en Ausbildung. Wenn das aber etwa wegen der Sprachbarr­iere nicht klappt, steigen sie lieber aus dem Bildungssy­stem aus und gehen arbeiten, als eine Lehre zu machen. „Es ist vielen nicht klar, dass das in Österreich einen Unterschie­d macht“, sagt der Studienaut­or. Generell sind Jugendlich­e mit nicht österreich­ischer Staatsbürg­erschaft in Lehrberufe­n unterreprä­sentiert. Aus diesem Grund hat der ÖIF eine Initiative gestartet, bei der Unternehme­n die Schulen besuchen oder die sogenannte­n Integratio­nsbotschaf­ter auch auf ihrem Arbeitspla­tz besucht werden.

Dass Frauen erwerbstät­ig sind, wird von den Familien akzeptiert. Erschwert wird das aber durch Faktoren wie familiäre Pflichten und fehlende Qualifikat­ionen. Trotzdem ist die Arbeitslos­enquote der russischen Frauen in Österreich geringer als die der Männer: „Für Frauen ist es ein Erfolg zu arbeiten, egal was“, sagt Hofmann. „Die jungen Männer wollen aber nicht mehr die schlecht bezahlten Jobs ihrer Väter machen.“

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