Tschetschenen: Eine eigene Welt
Gewalt, Sittenwächter, Emanzipation über den Arbeitsmarkt: Der „Presse“liegen die Ergebnisse einer Studie zur Lebensrealität von Tschetschenen in Österreich vor.
Sie sind eine Gruppe, die als schwierig gilt, von der in Medienberichten immer wieder in Zusammenhang mit Gewalttaten die Rede ist, und über die man – abgesehen davon – in Österreich recht wenig weiß. Dabei befindet sich im Europa-Vergleich mit 30.000 bis 40.000 Personen eine der größten tschetschenischen Bevölkerungsgruppen in Österreich. In Frankreich sind es etwa 60.000 Personen. In den Statistiken scheinen Tschetschenen als russische Staatsbürger auf. Bis ins Jahr 2022 war aber laut Experten beim Großteil der Asylwerber aus der Russischen Föderation davon auszugehen, dass es sich um Tschetschenen handelt. Im vergangenen Jahr hat der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF) aus den eingangs genannten Gründen das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) beauftragt, eine qualitative Studie zur Lebensrealität von Tschetschenen in Österreich durchzuführen.
Die Ergebnisse der Studie liegen der „Presse“nun vor. Sie liefern, wenn auch nicht repräsentativ für die gesamte Gruppe, Erklärungen, warum gerade Bildung und Arbeitsmarktintegrationen für Tschetschenen in Österreich eine große Herausforderung sind, und warum Gewalt, auch innerhalb der Familie, unter Tschetschenen ein großes Thema ist.
Anders als andere migrantische Gruppen verfügen Tschetschenen in Österreich meist nicht über große Netzwerke über die eigene Kernfamilie hinaus. „Der Fokus auf die eigene Familie ergibt sich auch aus der politischen und der Kriegssituation in Tschetschenien. Die Menschen haben gelernt, niemandem außerhalb ihres engsten Kreises zu trauen“, sagt Martin Hofmann, einer der Studienautoren. Das traditionelle Gewohnheitsrecht „Adat“spielt eine wichtige Rolle, indem es soziales Verhalten innerhalb der Familie, in der Gemeinschaft und in der Öffentlichkeit regelt. Es sieht unter anderem eine strikte Trennung des Privaten und Öffentlichen, eine Geschlechtertrennung und ein traditionelles patriarchales Familienmodell vor. Männer gelten als Ernährer und Beschützer der Familie, Frauen sind für das Private, den Haushalt und die Familie zuständig.
Die Einhaltung der gesellschaftlichen Regeln wird von „Sittenwächtern“gewissermaßen supervisiert. Die jüngere Generation, speziell junge Frauen, haben laut Studie aber oft den Wunsch, sich aus dem traditionellen Rollenbild zu emanzipieren. Das führt mitunter zu Konflikten in den Familien. „Gewalt war in praktisch jedem Interview ein Thema, auch innerhalb der Familie“, sagt Hofmann. Der ÖIF bietet in Frauenzentren Hilfe für betroffene Frauen an.
Rolle der Religion
„Das Sittenwächtertum ist aber nicht in der Religion begründet. Religion wird stark als Privatsache empfunden“, sagt Hofmann. Gleichzeitig seien zwei religiöse Gebote für viele Tschetschenen kaum verhandelbar: das Tragen des Kopftuchs und die täglichen Pflichtgebete.
Dass viele junge Männer unter bestimmten Umständen auch bereit sind, Konflikte mit Gewalt zu lösen, ergibt sich aus einem bestimmen Männlichkeitsbild: „Gerade wenn der eigene sozioökonomische Status niedrig ist, wird Kampfbereitschaft zum Ideal einer Art Hypermännlichkeit. Viele der Jungen sehen für sich auch eine Zukunft im professionellen Kampfsporteln“, erklärt Hofmann. Gerade unter den tschetschenischen Männern ist die Beschäftigungsquote im Vergleich zu anderen Zuwanderungsgruppen geringer. Die Arbeitslosenquote der Russen in Österreich liegt bei rund 20 Prozent. Grundsätzlich haben viele Tschetschenen in Österreich das Ziel einer akademischen Ausbildung. Wenn das aber etwa wegen der Sprachbarriere nicht klappt, steigen sie lieber aus dem Bildungssystem aus und gehen arbeiten, als eine Lehre zu machen. „Es ist vielen nicht klar, dass das in Österreich einen Unterschied macht“, sagt der Studienautor. Generell sind Jugendliche mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft in Lehrberufen unterrepräsentiert. Aus diesem Grund hat der ÖIF eine Initiative gestartet, bei der Unternehmen die Schulen besuchen oder die sogenannten Integrationsbotschafter auch auf ihrem Arbeitsplatz besucht werden.
Dass Frauen erwerbstätig sind, wird von den Familien akzeptiert. Erschwert wird das aber durch Faktoren wie familiäre Pflichten und fehlende Qualifikationen. Trotzdem ist die Arbeitslosenquote der russischen Frauen in Österreich geringer als die der Männer: „Für Frauen ist es ein Erfolg zu arbeiten, egal was“, sagt Hofmann. „Die jungen Männer wollen aber nicht mehr die schlecht bezahlten Jobs ihrer Väter machen.“