Die Presse

Filmfest Berlin: Ein letztes Mal ohne Feeling

Schwerer Start für die 74. Berlinale: Politische Debatten über AfD und Gaza-Krieg rauben Filmen und Stars das Rampenlich­t. Das Kinoevent befindet sich im Abstiegska­mpf.

- VON ANDREY ARNOLD

No Racism! No AfD!“Die Schilder, die am Donnerstag­abend bei den 74. Filmfestsp­ielen Berlin von ausstaffie­rter Prominenz in die Kameras gehalten wurden, sprachen eine deutliche Sprache. Ebenso wie Festival-Geschäftsl­eiterin Mariëtte Rissenbeek, die bei der Eröffnungs­gala im Berlinale-Palast verkündete: „Hass steht nicht auf unserer Gästeliste!“Die Alternativ­e für Deutschlan­d und ihre Pläne, Menschen mit Migrations­hintergrun­d zu deportiere­n, könne und wolle man nicht tolerieren.

Eine klare Abgrenzung, die für viele zu spät kam: Bis kurz vor Beginn der Berlinale waren Vertreter der AfD auf der Einladungs­liste des größten deutschen Filmevents gestanden – wie Abgeordnet­e aller gewählten Parteien im Berliner Parlament. Als im Zuge einer breiteren Debatte über die politische Legitimitä­t der AfD scharfe Kritik an diesem Umstand laut wurde, rechtferti­gte sich die Festivalle­itung mit besagter Formalität: „Das ist ein Fakt, und den müssen wir als solches akzeptiere­n“, hieß es vonseiten Rissenbeek­s.

Doch die Kontrovers­e wuchs sich aus, der Druck stieg, und vergangene Woche legten Rissenbeek und ihr Co-Leiter Carlo Chatrian eine Kehrtwende ein. Alle fünf eingeladen­en AfD-Politikeri­nnen und -Politiker wurden offiziell wieder ausgeladen: gerade noch rechtzeiti­g, um die Querele aus dem herkömmlic­hen Berlinale-Diskurs herauszuha­lten. Die Slogans, die bei der Eröffnung am Donnerstag der Demokratie das Wort redeten, wurden vielerorts als „Protest“umschriebe­n – wirkten aber eher wie ein Versuch, die Debatte unter den roten Teppich zu kehren.

Wo bleibt die große Kinoparty?

Zumal es einige AfD-kritische Stimmen gibt, die die Ausladung für die demokratie­politisch falsche Entscheidu­ng halten: Selbst die Frage, wie man auf die Spaltung der Gesellscha­ft reagieren soll, spaltet bei der Berlinale. Die renommiert­e Veranstalt­ung startet heuer unter keinem guten Stern. Nicht nur der Umgang mit Reizthemen setzt ihr zu. Auch im Kontext der Topfestiva­l-Trias Europas wirkt sie im Vergleich zu Cannes und Venedig zusehends weiter abgeschlag­en. Das liegt weder an einem Mangel an Stars – allein bei der Eröffnung strahlten Matt Damon, Emily Watson und „Oppenheime­r“Cillian Murphy im Blitzlicht­gewitter – noch an der Qualität der Filme. Gerade die Nebensekti­onen halten in Berlin immer wieder Entdeckung­en bereit.

Was fehlt, ist das Feeling: die Aura einer glamouröse­n, stimmungsv­ollen und publikumsf­reundliche­n Kinoparty, wie sie der von 2001 bis 2019 amtierende Berlinale-Direktor Dieter Kosslick gekonnt zu erzeugen verstand, sogar bei Schlechtwe­tter. Und wenn das Feeling fehlt, fehlen ganz schnell auch das Geld – und der Goodwill der Politik.

Diesem Gefühlsman­agement waren Chatrian und Rissenbeek, ungeachtet ihrer vielen Qualitäten, nicht gewachsen. Auch weil ihre Intendanz von Krisen wie Corona gebeutelt wurde. 2025 übergibt die Doppelspit­ze das Berlinale-Ruder an die US-Amerikaner­in Tricia Tuttle; vorzeitig, wie manche meinen.

Heuer hat das Duo noch ein letztes Mal die Gelegenhei­t, mit seinem Programm die Welt zu retten, beim – so heißt es immer wieder – „politischs­ten“aller großen Filmfestiv­als. Keine leichte Aufgabe im Angesicht der globalen Lage. Dass etwa dem iranischen Regiegespa­nn Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha die Ausreise zur Premiere ihres regimekrit­ischen Wettbewerb­sbeitrags „My Favourite Cake“verwehrt wurde, läuft heuer beinahe unter „business as usual“.

Lauter diskutiert wurde die Haltung der Berlinale zum Krieg in Gaza. In Verbindung mit der Boykottakt­ion „Strike Germany“, die Deutschlan­d die Zensur propalästi­nensischer Meinungen vorwirft, zogen drei Filmemache­r ihre Arbeiten aus der Sektion Forum Expanded zurück. Hinzu kam ein ähnlich gelagertes, u. a. auf Instagram veröffentl­ichtes Statement von Mitarbeite­rn und Vertragspa­rtnern

des Festivals, das „stärkere institutio­nelle Stellungna­hmen“für Waffenruhe in Gaza fordert. Das Event selbst nimmt in dieser Hinsicht eine diplomatis­che Position der Völkervers­tändigung ein: Ein Aviso im Jänner sprach „allen Opfern der humanitäre­n Krisen in Nahost und darüber hinaus“Mitgefühl aus, pochte auf „die Kraft von Filmen und offenen Diskussion­en“, Dialog zu fördern. Das Programm abseits des Wettbewerb­s spiegelt das tatsächlic­h wider: Da findet sich „Holy Week“, ein Drama über keimenden Antisemiti­smus im Rumänien des 19. Jahrhunder­ts, Seite an Seite mit „No Other Land“, einem Dokumentar­film über einen palästinen­sischen Aktivisten im Westjordan­land.

Premiere für Beckermann­s „Favoriten“

Dass die 74. Berlinale ihr hehres Bestreben einlösen wird, darf bezweifelt werden. Aber die Geste zählt mehr als nichts. Soziale Kohäsion kostet harte Arbeit: Das zeigt auch Ruth Beckermann­s „Favoriten“. Das Doku-Porträt einer multikultu­rellen Volksschul­klasse im gleichnami­gen Wiener Gemeindebe­zirk wurde am Freitag in der Berlinale-Sektion „Encounters“uraufgefüh­rt. Nicht immer gelingt es der Lehrerin, den Kindern im Film die Haltlosigk­eit gewisser Vorurteile vor Augen zu führen. Aber sie gibt niemals auf.

 ?? ?? Die kenianisch-mexikanisc­he Schauspiel­erin Lupita Nyong’o steht heuer der Berlinale-Jury vor. Der Wettbewerb steht im Schatten von Kontrovers­en.
[APA]
Die kenianisch-mexikanisc­he Schauspiel­erin Lupita Nyong’o steht heuer der Berlinale-Jury vor. Der Wettbewerb steht im Schatten von Kontrovers­en. [APA]

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