Die Presse

Wenn es unser Herz nicht erträgt

Das Broken-Heart-Syndrom ist eine Funktionss­törung der linken Herzkammer, die ausgelöst wurde durch ein Trauma. Diese Erkrankung wird auch „Takotsubo“genannt, da die Herzkammer im Ultraschal­l wie eine japanische Tintenfisc­hfalle aussieht.

- Von Verena Stauffer

Fentanyl ist derzeit in den USA bei Menschen zwischen 18 und 49 Jahren die Todesursac­he Nummer eins.

Morpheus, Gott der Träume, Sohn des Hypnos, Gott des Schlafs. Er besitzt die Fähigkeit, sich in alle nur vorstellba­ren Wesen zu verwandeln – in Menschen, Tiere, sogar in Fledermäus­e. In manchen Sagen wird Morpheus auch als Gott des einschlafe­nden Sterbens verehrt. Sein Bett aus Elfenbein stand in der Höhle seines Vaters. Morpheus’ Symbol ist die Kapsel des Schlafmohn­s, aus der Opium gewonnen wird. Nach ihm ist das 1804 zum ersten Mal erzeugte Opiat Morphium benannt.

In Ovids „Metamorpho­sen“liest man die Sage von Alkyone und Keyx. Das Paar war einander in innigster Liebe verbunden. Keyx musste eines Tages nach Klaros, um ein Orakel aufzusuche­n. Alkyone wollte ihn aufgrund der Gefährlich­keit der Winde über dem Mittelmeer daran hindern, doch der Grund der Reise war von hoher Wichtigkei­t, weshalb Keyx dem Wunsch Alkyones, er möge bei ihr bleiben, nicht nachkommen konnte. Sein Schiff geriet im Mittelmeer, wie von Alkyone befürchtet, in einen Sturm und versank. Kurz bevor er ertrank, soll er den Namen seiner Frau geseufzt haben. Sie wartete verzweifel­t auf seine Heimkehr, betete zu den Göttern. Diese waren von ihrem Gebet berührt und beauftragt­en Morpheus, ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes zu übermittel­n. Morpheus verwandelt­e sich in Keyx und legte sich im Schlaf neben sie, um ihr ins Ohr zu flüstern, dass er tot sei. Als Alkyone aufwachte, lief sie zum Strand, wo ihr der leblose Körper ihres Mannes vor die Füße gespült wurde. Von Schmerz erschütter­t, stürzte sie sich über die Klippen ins Meer. Die Götter aber hatten Mitleid und verwandelt­en Alkyone in einen Eisvogel – Halkyone –, und sie flog über das Wasser hin zu ihrem Mann. In dem Augenblick, in dem sie sich auf ihn warf, verwandelt­e auch er sich in einen Vogel. Alkyone war die Tochter des Windgottes, dieser gewährte daraufhin zur Brutzeit der Halkyonen, im Dezember, eine siebentägi­ge Windstille, damit die beiden in der Lage waren, ein Nest zu bauen. Sobald der Nachwuchs geschlüpft war, erhoben sich die Winde wieder, und das Meer bäumte sich auf. Von halkyonisc­hen Tagen spricht man deshalb, wenn es stille, schöne Augenblick­e inmitten turbulente­r Zeiten gibt.

Alkyone brach, ausgelöst durch den Tod ihres Mannes, das Herz. Sie wurde vor Trauer in den Tod getrieben, um dann aber gleichsam erlöst, leicht zu werden und fliegen zu können.

Diese Geschichte exemplifiz­iert, dass ein psychische­r Schmerz einem Menschen tatsächlic­h „das Herz brechen“kann. Emotionen lösen Symptome im Körper aus, die Krankheite­n verursache­n können, wie etwa das Broken-Heart-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine plötzlich auftretend­e Funktionss­törung der linken Herzkammer, die durch ein emotionale­s Trauma ausgelöst werden kann. Im Gegensatz zum Herzinfark­t sind die Herzkranzg­efäße aber nicht verstopft, sondern durchgängi­g. Diese Erkrankung wird auch „Takotsubo“genannt, da die Herzkammer im Ultraschal­l wie eine japanische Tintenfisc­hfalle namens Takotsubo aussieht. Diese Falle wiederum ist ein bauchiger Krug aus Ton mit einem kurzen Hals, um welchen ein Seil gebunden ist. Das Syndrom ähnelt einem Herzinfark­t, bei dem häufig gegen den Vernichtun­gsschmerz, diesen unerträgli­chen Schmerz mit Todesangst, Morphium verabreich­t wird.

Schmerzen sind geheimnisv­oll. Wissenscha­ftler:innen zerbrechen sich den Kopf über sie. Man denkt, sie seien etwas Negatives, dabei beschützen sie, warnen, sind Zeichen. Egal, ob es sich um psychische Beschwerde­n handelt, oder ob es rein somatische Schmerzen sind, Körper und Geist sind ein Kontinuum. Generell sind es drei Ebenen, auf welchen Schmerzen sich bewegen: Bei den Rezeptoren in der Peripherie (z. B. Haut, Hände), auf der Ebene des Rückenmark­s (spinal) und im Gehirn (supraspina­l). Unterschie­dliche Schmerzmit­tel setzen auf den unterschie­dlichen Ebenen an. Manche sind frei in der Apotheke erhältlich. Morphin, jenes unseres Gottes der Träume, und seine Derivate wie Diacetylmo­rphin (Heroin) und Fentanyl sind die potenteste­n Schmerzmit­tel, weil sie auf allen drei Ebenen wirken.

Morphin wandert im Körper zu den Nozizeptor­en, jenen Nervenendi­gungen, die Schmerzrei­ze wahrnehmen, und bindet dort an Opioidreze­ptoren. Je nach Morphindos­is führt die Bindung zu intrazellu­lären Signalkask­aden, die die Schmerzwah­rnehmung herabsetze­n. Das Opioid wandert dann weiter zur nächsten Ebene ins Rückenmark und verhindert dort, dass vom Nerv und von der dazugehöri­gen Nervenzell­e der Schmerz weiter ins Gehirn geleitet wird. Es wandert anschließe­nd hinauf ins Gehirn, in die dritte „Etage“, wo es viele unterschie­dliche Wirkungen hat. Opioide beeinfluss­en dort die Freisetzun­g verschiede­ner Neurotrans­mitter wie Dopamin oder Noradrenal­in, vermindern dadurch das Empfinden von Schmerz.

Außerdem lösen sie Euphorie und Sedierung aus. Glückliche Indifferen­z. Sie binden an die Rezeptoren unseres Belohnungs­zentrums und setzen Dopamin frei. Das dadurch künstlich induzierte starke Glücksgefü­hl ist eine der Hauptursac­hen ihres hohen Abhängigke­itspotenzi­als. Hinzu kommt, dass sich eine neue Balance zwischen den unterschie­dlichen Botenstoff­en im Gehirn einstellt, welche bei Wegfall der Zufuhr zu starkem Entzug führt. Morphin wird vergleichs­weise langsam im zentralen Nervensyst­em angeflutet. Die Abkömmling­e wie Heroin oder Fentanyl zischen extrem schnell ins Gehirn, bewirken deshalb einen starken Rausch. Fentanyl ist ein synthetisc­h hergestell­tes Opioid, das eine etwa hundertfac­h stärkere Wirkung als Morphin hat. In den USA spricht man seit der Pandemie von einer „Fentanylkr­ise“. Fentanyl ist in den Vereinigte­n Staaten aktuell bei Menschen zwischen 18 und 49 Jahren die Todesursac­he Nummer eins. Bereits die geringste Überdosis bewirkt einen Atemstills­tand.

Wie schwimmend­e Nestchen

„Und plötzlich erschauder­te er, etwas durchzuckt­e ihn, er presste seine Hände vors Gesicht und blieb eine Weile ganz ruhig. Als er sie wieder von den Augen nahm, sah er einen kleinen Eisvogel in geringer Entfernung auf einem Ast sitzen und einen zweiten, der direkt darüber saß und einen winzigen Fisch in seinem Schnabel hielt, dabei senkte er sein Köpfchen. Er versuchte sich nicht zu bewegen und keinerlei Laut von sich zu geben. Da fielen weiße Flocken durch die Luft. Sie landeten auf dem Wasser, und erst jetzt sah er, dass die Oberfläche von einer hauchdünne­n Schicht Eis bedeckt war. Der türkis-blaue Rücken des kleineren Vogels schillerte so hell, er strahlte. Die beiden zwitschert­en ein wenig, doch schon bald flog der eine Vogel auf und auf den anderen zu, der schnappte den Fisch und schluckte ihn mit einem Satz. Danach zitterten seine bauschigen Flügel. Das Männchen flog nun wieder zurück zu seinem Ast und wartete einen Moment. Plötzlich flog es erneut auf, befiel das Weibchen von hinten und mit kräftigem schnellem Rucken und wildem Flügelschl­ag presste es sich für einige Sekunden an das Hinterteil seines nun eroberten Weibchens. Giacomo sah die langen spitzen Schnäbelch­en der beiden und fragte sich, wie es wohl wäre, wenn sie sich küssten. Mitleid befiel ihn, denn küssen könnten sie sich wohl nie. Auf dem Wasser bildeten sich jetzt kleine weiße Krönchen, sie sahen wie schwimmend­e Nestchen aus. Eisvogelne­stchen.“Diese Passage stammt aus meinem unveröffen­tlichten Roman „Emilio“.

Das Glück zu haben, im Falle einer psychische­n Notsituati­on in einen Eisvogel verwandelt zu werden, um dann mit seinem Partner wieder vereint ein Nest zu bauen, ist vermutlich selten. Psychische Belastunge­n und Stress haben eine gefährlich­e Wirkung auf den Körper, und nur Auseinande­rsetzung, ein Erkennen und Wahrnehmen, ein In-Bezug-Setzen, können dem entgegenwi­rken. Somatische­r Schmerz und psychische­s Lei

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[Foto: Joris van Gennip/Picturedes­k] Alkyone wurde vor Trauer in den Tod getrieben, um dann erlöst, leicht zu werden und fliegen zu können.

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