Die europäische Kommune in Zentralasien
Expedition Europa: Zwar wurde die Kommune 1943 liquidiert, die russischsprachige Sowjetdame erinnert sich aber noch an alles.
Interhelpo war eine Kommune mitteleuropäischer Kommunisten am Fuß des zentralasiatischen Hochgebirges Tienschan. Von 1925 bis 1932 siedelten 1078 Menschen in diese Wildnis über, 405 Tschechen, 380 Slowaken, der Rest benachbarte k. u. k. Nationalitäten. Als Umgangssprache war Ido vorgesehen, eine aus dem Esperanto hervorgegangene Plansprache. In der damals nur 5000 Einwohner zählenden Steppensiedlung Bischkek erwartete sie niemand, sie hausten anfangs in Kriegsgefangenenbaracken und Erdhütten, die Mehrzahl der mitgereisten Kleinkinder starb, und die Hälfte kehrte in die kapitalistische Tschechoslowakei zurück.
Trotz allem waren es aber diese beseelten Arbeiter, welche im sowjetischen Kirgisistan die Industrie begründeten, mit dem ersten Elektrizitätswerk und dem ersten Möbelbau, dazu eine Textilfabrik, eine Gerberei, ein Stahlwerk. Im Jahr 1934 stellte die Kommune 20 Prozent der Industrieproduktion Kirgisistans her.
100 Jahre nach Gründung der Genossenschaft, für die ihre Mitglieder den gesamten Besitz verkauften, gehe ich mir anschauen, was davon übrig ist. Ich hoffe, zumindest noch etwas von den schlichten weißen selbst gebauten Vierfamilienhäusern der Kommunarden zu sehen. Da ich die 430-seitige historische Reportage des slowakischen Journalisten Lukáš Onderčanin dabeihabe, „Utópia v Leninovej záhrade – Die Utopie in Lenins Garten“, habe ich Fotos von damals.
Es gibt die Straße „Interhelpo“, fußläufig vom Busbahnhof, vom Deng-Xiaoping-Boulevard links. Irgendwas ist aber komisch. Bischkek ist eine säkulare, sprachlich stark russifizierte Millionenstadt, hier aber sehe ich schon kleine Mädchen mit Schleier, viele können gar kein Russisch und haben nie von der Kommune Interhelpo gehört. In den Minishops filtere ich heraus: Hier leben verachtete Zugezogene aus dem religiösen Süden Kirgisistans: „Wir sind hier alle Untermieter“, „Das sind dunkle Menschen“, „Die sind dumm“.
Ich spreche eine dünne weißhäutige sowjetbourgeoise Dame an, die mit 72 schon ziemlich gebrechlich wirkt, aber Intelligenz im Blick hat. Sie zieht gerade ihren Einkaufsroller nach Hause, „ist aber nicht schwer, sind nur ein paar Paradeiser drin“. Zwar wurde die Kommune schon 1943 liquidiert, die russischsprachige Sowjetdame erinnert sich aber an alles: Sie kannte eine alte InterhelpoSlowakin, die erst vor wenigen Jahren für immer nach Bratislava gezogen war. Die Slowakin habe ihr Interhelpo-Haus originalgetreu mit Utensilien aus der Gründerzeit bewahrt, daraus sollte ein Museum werden, das sei aber an einer Summe im untersten fünfstelligen Eurobereich gescheitert. Eine andere Freundin, auch Slowakin, sei der Familie nach Samara nachgezogen, „sie empfindet sich als Russin“. Die Dame zeigt mir den Stolz der Kommune, den „Klub“, nun von einem Schachverband und Jugendsportvereinen genutzt. Der kleine Veranstaltungssaal ist fast so hoch wie breit, weiß und nüchtern und empfängt so gut wie kein Tageslicht.
Vorbei an einer abgesperrten Brache mit pittoresken Ruinen werde ich nun zum stark befahrenen Dimitrow-Boulevard geführt. Dieser zerschneide neuerdings den nach dem tschechischen kommunistischen Schriftsteller Julius Fučík benannten Park, „früher war das ein prachtvoller Spazierweg im Park, man ist hier mit dem Kinderwagen ausgegangen, es gab Eisdielen und alles Mögliche“. .Die Straßenbeleuchtung auf der Interhelpo sei heute auch erbärmlich, klagt sie weiter: „Damals hat sie alle Farben gespielt!“
Am Ende weist sie noch in die Richtung, in der die Vierfamilienhäuser der Kommunarden standen: „Da muss ich Sie aber enttäuschen, Sie werden diese Häuser von der Straße nicht erkennen. Das ist jetzt ein Cottage.“Die Sowjetdame hat recht, die für vier Familien eigentlich viel zu kleinen Häuser sind hinter den Zäunen größerer neuer Stadtvillen verschwunden, zergliedert, zugemauert, zugebaut und wohl auch abgebaut. Nichts sieht hier aus wie auf den Fotos von damals.
An die Utopie von internationalistischer Verständigung in der Plansprache Ido erinnert heute außer dem Namen Interhelpo nichts mehr. Ido spielte in Interhelpo nie eine besondere Rolle. Anfangs sprach man „Spontan-Esperanto“, d. h., Tschechisch und Slowakisch, und später – 1935 war bereits die Hälfte der Kommunarden Russen – Russisch.