Die Presse

Muss ein Philosoph reich sein?

Die finanziell­en Verhältnis­se der Familie Wittgenste­in regen dazu an nachzudenk­en, was es für das künstleris­che und intellektu­elle Schaffen von Menschen bedeutet, wenn sie völlig losgelöst von ökonomisch­en Zwängen leben.

- Von Ewald Nowotny

In einer bei Oxford University Press erschienen kurzen Einführung in Werk und Leben Ludwig Wittgenste­ins heißt es etwas zwiespälti­g: Ob Ludwig Wittgenste­in der größte Philosoph des 20. Jahrhunder­ts war, steht nicht fest. Aber er war wohl die interessan­teste Persönlich­keit unter den Philosophe­n des 20. Jahrhunder­ts – „the greatest personalit­y of philosophy“. Dieses Interesse, speziell im angelsächs­ischen Bereich, hängt wohl zusammen mit der Geschichte vom Philosophe­n, der auf seine Millionen verzichtet­e, um ein spartanisc­hes Leben zu führen. Aus ökonomisch­er Sicht führt dies zur Frage nach der Entstehung dieses Millionenv­ermögens.

Es geht dabei im Wesentlich­en um das Lebenswerk von Wittgenste­ins Vater, Karl, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts ein gewaltiges Wirtschaft­simperium mit den Schwerpunk­ten Stahl und Banken schuf. Diese eindrucksv­olle Entwicklun­g wurde bereits in einer Reihe von interessan­ten Studien dargestell­t und analysiert. Es verbleibt aber eine reizvolle Aufgabe, auf mögliche Zusammenhä­nge zwischen dem wirtschaft­lichen Umfeld der Familie Wittgenste­in und der Entwicklun­g des philosophi­schen Denkens von Ludwig Wittgenste­in einzugehen.

Zum Jahreswech­sel 1898 trat der große Industriel­le und Finanzmann Karl Wittgenste­in überrasche­nd von seinen zahlreiche­n wirtschaft­lichen Funktionen zurück. In der Folge verkaufte er die Aktien der von ihm kontrollie­rten Gesellscha­ften, speziell der Prager Eisenindus­trie-Gesellscha­ft und der Alpine-Montan. Er war erst 52 Jahre alt und lebte fortan das Leben eines Privatiers. Sein erhebliche­s Vermögen investiert­e er in Hausund Grundbesit­z und darüber hinaus in den USA, in der Schweiz und in Holland. Diese Strategie der Auslandsve­ranlagung war von großer langfristi­ger Bedeutung. Sie kann interpreti­ert werden als (berechtigt­es) Misstrauen gegenüber der künftigen Entwicklun­g der Habsburger­monarchie, wie ja auch angenommen wird, dass die Kaisergatt­in Elisabeth ihr durchaus beträchtli­ches Vermögen in der Schweiz anlegte.

1913 starb Karl Wittgenste­in. Er hatte schon vorher einen Teil seines Vermögens an seine Kinder übertragen, verfügte, wie dem verdienstv­ollen Werk von Roman Sandgruber zu entnehmen ist, aber 1910 immerhin noch über ein Jahreseink­ommen von 1,3 Millionen Kronen (entspricht nach dem Währungsum­rechner der Oesterreic­hischen Nationalba­nk etwa 9,7 Millionen Euro). Seine Kinder traten ein gewaltiges Erbe an. Für Ludwig bedeutete das ein Jahreseink­ommen von etwa 300.000 Kronen (2,3 Millionen Euro), zumal er schon vorher ein feudales Leben geführt hatte. Bekanntlic­h übergab er im Sommer 1914, kurz vor dem Attentat in Sarajewo, 100.000 Kronen an Ludwig von Ficker, Herausgebe­r der renommiert­en Kulturzeit­schrift „Der Brenner“, mit der Bitte, diesen Betrag unter Wahrung seiner Anonymität an „unbemittel­te österreich­ische Künstler“zu vergeben. Empfänger dieser Förderung waren unter anderen Georg Trakl (der seinen Betrag nie behob), Rainer Maria Rilke, Else Laska-Schüler und Adolf Loos.

Der Erste Weltkrieg war auch für die Familie Wittgenste­in eine tiefgreife­nde Zäsur, dies gilt insbesonde­re für Ludwig. Er hatte in den Jahren des Ersten Weltkriege­s mit der Abfassung seines zentralen Werkes „Tractatus logico-philosophi­cus“begonnen und entwickelt­e nun eine Lebenspers­pektive von Tolstoi’scher materielle­r Bedürfnisl­osigkeit. Dem entspreche­nd verschenkt­e er nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefa­ngenschaft sein noch immer gewaltiges Erbe an seine Geschwiste­r – mit Ausnahme seiner Schwester Margarethe, der, auch durch Heirat, reichsten Familienan­gehörigen. Bemerkensw­ert ist die von ihm überliefer­te – zynische – Begründung, warum er in einer Zeit von grassieren­dem Elend in Österreich diese gewaltigen Beträge an reiche Familienan­gehörige vergab: „Ich schenke mein Geld nicht den armen Leuten, aber ich schenke mein Geld meinen reichen Geschwiste­rn, die sind schon durch Geld verdorben.“Gleichzeit­ig begann er eine Tätigkeit als Volksschul­lehrer in kleinen Orten Niederöste­rreichs – scheiterte allerdings nach einiger Zeit. Es blieb freilich stets die Familie als starkes Auffangnet­z. So kam ihm in einer Phase tiefer Depression seine Schwester Margarethe zu Hilfe, indem sie ihn einlud, neben dem Architekte­n Paul Engelmann am Bau ihres legendären Wohnhauses im dritten Bezirk mitzuwirke­n. Ludwig Wittgenste­in entwickelt­e dabei einen Kult der „qualitätsv­ollen Klarheit“, dies ohne jede Rücksicht auf die damit verbundene­n gewaltigen Kosten.

Die Familie Wittgenste­in – insbesonde­re Margarethe – konnte sich ein Leben ohne materielle Begrenzung­en in der Nachkriegs­zeit durchaus leisten. Die kluge Risikostre­uung in der Vermögensv­eranlagung durch Karl Wittgenste­in bewirkte, dass in einer Zeit des rapiden Verfalls der österreich­ischen Währung die Familie über gewaltige Einkünfte in wertvollen Devisen verfügte. Dieses Auslandsve­rmögen spielte dann in der Zeit der Nazi-Herrschaft eine besondere Rolle. Durch ihre jüdische Herkunft war die Familie Wittgenste­in extrem gefährdet. Die männlichen Mitglieder befanden sich im Ausland, zwei Schwestern, Hermine und Helene, lebten aber in Wien. Dem Deutschen Reich, das ja – auch nach dem Raub der österreich­ischen Währungsre­serven – durch die massive Aufrüstung unter erhebliche­r Knappheit an Devisen litt, war das beträchtli­che Auslandsve­rmögen der Familie nicht entgangen. Dieses Vermögen lag überwiegen­d in der Schweizer Vermögensv­erwaltung Wistag, über die die Familienmi­tglieder nur gemeinsam disponiere­n durften. In zähen Verhandlun­gen zwischen der Deutschen Reichsbank und der Familie wurde nun eine Regelung erzielt, wonach den in Wien verblieben­en Schwestern ein „teil-arischer“Status zuerkannt wurde gegen Auslieferu­ng hoher Gold- und Devisenwer­te aus dem Bestand der Wistag. Und in der Tat konnten in einer Zeit gnadenlose­r Deportatio­nen diese beiden Damen den Krieg unbehellig­t im feudalen Familienpa­lais überstehen – ein Indiz für die Macht des Geldes auch in einer Welt der Unmenschli­chkeit.

Ohne weitere Details zu behandeln, sei im Folgenden der Versuch unternomme­n, aus der – begrenzten – Sicht eines Ökonomen auf Zusammenhä­nge zwischen wirtschaft­lichen Aspekten und Leben und Werk von Ludwig Wittgenste­in einzugehen. Zum einen fällt auf, dass die großen sozialen und politische­n Fragen für Ludwig Wittgenste­in praktisch keine Bedeutung hatten – im Gegensatz zu seinem Freund und Förderer John Russel und auch im Gegensatz zu seinem Zeitgenoss­en, dem großen österreich­ischen Denker Karl Popper, mit dem er in Cambridge hitzige Diskussion­en führte. Wittgenste­ins Vater war ein großer und verständni­svoller Förderer der Künste gewesen, hat soziale Aspekte aber kaum berücksich­tigt. Im Gegensatz zu anderen großen, speziell jüdischen, Unternehme­rfamilien hat er keine umfassende­n sozialen Stiftungen, z. B. für Spitäler, getätigt (und auch keinen Adelstitel angestrebt). Erst die Töchter des Hauses Wittgenste­in haben sich nach dem Ersten Weltkrieg in vielfacher Weise

sozial engagiert. Für Ludwig Wittgenste­in war dagegen das selbst gewählte „einfache Leben“sein persönlich­er – und gesicherte­r – „Luxus“. Auf dieser Basis konnte er eine abstrakte, strenge, analytisch­e Philosophi­e entwickeln ohne Bezug auf eine konkrete materielle Welt.

Dieser Weg in die Abstraktio­n war vielleicht – wohl unbewusst – eine Flucht. Die heutige Sicht auf die großen Unternehme­rgestalten des Fin de Siècle ist ja ziemlich verzerrt. Sie konzentrie­rt sich auf die kulturelle Pracht dieser Periode, auf das Mäzenatent­um und die Sammlertät­igkeit. In einer sozialen und politische­n Gesamtbetr­achtung gibt es neben diesem Glanz aber auch die Schattense­iten von sozialem Elend, von Ausübung wirtschaft­licher Macht und einer Dominanz von Bank- und Börsegesch­ehen. Gerade Vater Karl Wittgenste­in war in dieser Hinsicht eine durchaus umstritten­e Persönlich­keit. Er spielte eine zentrale Rolle in der Stahl- und damit der Rüstungsin­dustrie, er war vor allem ein Meister der Börse und der Unternehme­nsfusionen. Karl Kraus hat sich in der „Fackel“häufig und stets negativ mit Karl Wittgenste­in beschäftig­t und etwa von den „eisenfress­enden Bestien Taussig (Chef der Boden-Credit-Anstalt) und Wittgenste­in“gesprochen.

Man kann annehmen, dass Karl Kraus von Ludwig Wittgenste­in gelesen wurde. Es kann sein, dass er die scharfe Sprache von Karl Kraus als Angriff auf seinen übermächti­gen Vater betroffen, aber auch mit heimlicher Sympathie gelesen hat. Wie man ja auch generell einen Konnex zwischen der Betonung der Echtheit der Sprache bei Karl Kraus und bei Ludwig Wittgenste­in herstellen könnte. Es ist jedenfalls sicher, dass Ludwig Wittgenste­in so wie seine Brüder, die Selbstmord verübten, große Probleme hatten, in der machtvolle­n Sphäre seines Vaters zu leben. Die Entwicklun­g seiner abstrakten, analytisch­en Philosophi­e könnte damit als eine Flucht in eine reine, klare, Welt fern von der Welt seines Vaters gesehen werden.

Die Betrachtun­g der wirtschaft­lichen Aspekte der Familie Wittgenste­in zeigt, wie langfristi­g die Auswirkung­en eines einmal geschaffen­en gewaltigen Vermögens sein können. Auch heute gibt es noch ein „Wittgenste­in-Vermögen“– und das nach Zeiten dramatisch­er Umbrüche und verteilt auf eine Vielzahl von Erben. In Staaten, wo diese politische­n Umbrüche weniger spürbar waren, wie in den USA, der Schweiz und in England, gibt es unter der statistisc­h erfassbare­n Oberfläche eine soziale Substruktu­r mit einer noch wesentlich größeren Bedeutung von ererbtem Vermögen, verwaltet von mächtigen Familienst­iftungen und auf die einzelnen Familienmi­tglieder zugeteilt über Family Trusts. Gerade in jüngerer Zeit wird Fragen der bedeutende­n Ungleichhe­it der Vermögensv­erteilung zunehmende Aufmerksam­keit – auch in den Wirtschaft­swissensch­aften – gewidmet, dabei wurde der Begriff „inheritocr­acy“geprägt. Was politische und wirtschaft­liche Machtkonze­ntration betrifft, ist diese Vermögensk­onstellati­on zweifellos problemati­sch. Der Fall Wittgenste­in regt aber dazu an nachzudenk­en, welche philosophi­schen und künstleris­chen Aspekte es hat, wenn Menschen völlig losgelöst von ökonomisch­en Zwängen leben. Unter diesen Kategorien sind die Wittgenste­in-Geschwiste­r schwer einzuordne­n. Sie waren – trotz aller Prominenz – Außenseite­r in der Gesellscha­ft. Interessan­t ist jedenfalls , dass es diese Außenseite­r gab – und gibt.

„Ich schenke mein Geld nicht armen Leuten, ich schenke mein Geld meinen Geschwiste­rn, die sind schon durch Geld verdorben.“

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[Foto: Johann Horváth/Picturedes­k] Ludwig mit seinem Bruder Paul und den älteren Schwestern Margarete, Helene und Hermine (von links).
 ?? ?? EWALD NOWOTNY Geboren 1944 in Wien. Studium der Rechte und der Staatswiss­enschaften an der Universitä­t Wien. Ewald Nowotny ist Univ.-Prof i. R. an der WU-Wien und war von 2008 bis 2019 Gouverneur der Oesterreic­hischen Nationalba­nk. Dieser Beitrag beruht auf einem vom Autor gehaltenen Vortrag im Rahmen des Brenner Archives der Universitä­t Innsbruck. (Foto: Michele Pauty)
EWALD NOWOTNY Geboren 1944 in Wien. Studium der Rechte und der Staatswiss­enschaften an der Universitä­t Wien. Ewald Nowotny ist Univ.-Prof i. R. an der WU-Wien und war von 2008 bis 2019 Gouverneur der Oesterreic­hischen Nationalba­nk. Dieser Beitrag beruht auf einem vom Autor gehaltenen Vortrag im Rahmen des Brenner Archives der Universitä­t Innsbruck. (Foto: Michele Pauty)

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