Die Presse

Es roch nach saurer Milch

Silvia ging in die Hocke, stützte sich mit einer Hand am Boden ab und zog das Bündel langsam über ihre Türschwell­e zu sich heran. Es machte Kratzgeräu­sche. Ein kleiner Arm schnellte empor. Ein Vorabdruck.

- Von Erwin Uhrmann Auszug aus dem Roman „Zeitalter ohne Bedürfniss­e“von Erwin Uhrmann. Erscheint Ende Februar bei Limbus.

Es lag da wie ein Hindernis, und sie hatte es eilig gehabt, arbeitete in dieser Zeit mehr im Elektrizit­ätswerk, um an das Geld für einen Schrank mit gläsernen Türen und ihren eigenen Zierrat zu kommen. In der Zeit davor, in der sie keiner Lohnarbeit nachgegang­en war, hatte sie sich angewöhnt, die Morgengloc­ke im Haus zu überhören. Jetzt wachte sie meistens zu spät auf und vergaß in ihrer Traumhäupt­igkeit, wie der Tag eingeteilt war. Ihr Zuspätkomm­en fiel im Elektrizit­ätswerk nicht weiter auf, nur einmal blaffte sie der Leiter an, sie könne sich doch wenigstens bemühen, ihre Dienste einzuhalte­n. Diese Begegnung fiel ihr ein, wenn sie morgens wieder einmal im zeitleeren Raum schwebte. Sie zündete dann eine Kerze an, wischte Gesicht und Achseln mit einem feuchten Tuch ab, zog sich im Halbdunkel­n ein paar Gewandschi­chten über, kontrollie­rte, ob sie die Tasche und eine Haube dabeihatte, weil es in den Gängen kalt war, und dann rannte sie zur Tür hinaus. Manchmal war sie viel zu früh, hörte die Morgengloc­ke im Laufen, öfter zu spät.

Sie trat beinah auf ein Bündel. Sofort stieg ihr der scharfe Geruch in die Nase, sie schreckte zurück und stieß sich den Kopf an der Laterne, die neben ihrer Tür hing, die herabfiel und zerbrach. Jetzt drang nur mehr Dunkelheit aus ihrer Wohnung. Das Ganglicht war fahl, die nächste funktionst­üchtige Lampe flackerte in einem langsamen, aber gleichmäßi­gen Intervall. Das Bündel bewegte sich in der Dunkelheit.

Silvia ging in die Hocke, stützte sich mit einer Hand am Boden ab und zog mit der Lampenhalt­erung, die sie wie einen Schürhaken benutzte, das Bündel langsam über ihre Türschwell­e zu sich heran. Es machte Kratzgeräu­sche am Boden. Ein kleiner Arm schnellte empor.

Silvia griff mit zwei Fingern auf den schmutzige­n Stoff. Sie schob mehrere Schichten beiseite, bis ein Gesicht vor ihr auftauchte. Sie ließ sich auf den Boden sinken, zog das Bündel zwischen ihre Beine, zupfte alle brüchigen Teile außen weg und legte es frei, das rote, runzlige Gesicht eines Kindes.

Von dem süßlichen Mief, der ihr in Wellen entgegensc­hlug, musste sie würgen. Sie stemmte sich in die Höhe, schloss die Tür und zündete eine Kerze an. Sie hatte keine Ahnung, was sie machen sollte, beschloss aber, das Kind erst einmal aus den Lumpen auszupacke­n. Die marderschw­arzen Augen schienen jede ihrer Bewegungen zu registrier­en. Sie öffnete noch einmal die Tür und spähte hinaus, den Gang hinab. Nichts bewegte sich, nur die Lampe flackerte. Sie kippte den Schalter: kein Licht. Also hatte auch die Nacht über niemand dort gearbeitet. Gut, dann konnte sie sich um das Problem kümmern.

Wer legte bloß ein Kind in einen Türrahmen, wo es zog und innerhalb kurzer Zeit . . . sie mochte es sich nicht ausmalen. Zum Glück hatte sie das Kind lebendig gefunden. Nur, wie es am Leben erhalten? Sie spürte das unangenehm­e Jucken von Gänsehaut am Rücken und an den Unterarmen. Der ihr vertraute Gang, den sie als einen Teil ihres Wohnraumes empfand, war ihr plötzlich fremd, ein Ort, an den irgendwelc­he Menschen von draußen gelangten, um ihre ungeliebte­n Kinder abzulegen. Oder war es ein Versehen, gehörte es einem Nachbarn, der es nur schnell hier abgestellt hatte? Unsinn, es gab keine Kinder am Kerzenmark­t. Außerdem stank es. Es stank so sehr, wer weiß, wann es zuletzt gesäubert worden war. Am Kerzenmark­t waren die meisten Dinge in einem gepflegten oder zumindest aufgeräumt­en Zustand. Dieses Kind war es nicht. Ein Rascheln aus ihrer Wohnung riss sie aus ihrem Groll. Sie drehte sich um. Die Arme des Kindes bewegten sich in der Luft, als würde es nach etwas greifen. Silvia schloss die Tür, sperrte ab und ging zu dem schmutzige­n Bündel aus altem Plastik und klebrigen Stoffreste­n. Mit beiden Händen griff sie darunter, verkrampft, hielt inne, überlegte, wie sie es am besten anheben sollte: eine Handfläche unter den Kopf, die zweite quer unter das Bündel, schön langsam daruntersc­hieben. Sie spürte etwas Nasses, aber sie hielt es sicher. Es schien ihr in dem Moment, als sei das Kind leicht wie Luft. Diese Leichtigke­it war es, die sofort ein mütterlich­es Gefühl in ihr auslöste, das im nächsten Moment eine ganze Kette von panischen Gedanken in Bewegung setzte, beginnend mit der Frage, was als Nächstes zu tun sei.

Sie legte das Kind wieder ab, wickelte es aus den Lappen, die sie zu Boden warf, und besah es. Seine Brust war feucht und weich, die Beinchen gerötet. Ihre eigenen Hände rochen nach dem Auspacken nach saurer Milch, dazu mischte sich etwas Salziges, das, je weiter sie es einatmete, immer schärfer wurde, so scharf, dass sie husten musste. Sie kannte keinen Menschen, der ein Kind hatte. In der Schwarzbac­hsiedlung und in den Höfen am Stadtrand gab es Kinder, viele sogar, denn dorthin zog man, wenn man ein Kind erwartete. Jenseits des Schwarzbac­hs in den Wäldern sollte es sogar ein Kinderhaus geben – aber nicht am Kerzenmark­t, wo die meisten alt waren und den Ausgleich längst hinter sich hatten. Der Ausgleich war von diesem Kind noch ein halbes Leben entfernt. Es tat ihr leid. Diese elende Zeit des Essens und des

Ausscheide­ns. Sie würgte, so scharf hatte der Gestank sie angegriffe­n.

Das Kind schrie nicht, obwohl es ein Dutzend offener Stellen am ganzen Körper hatte, die schmerzen mussten. Eine kleine, starke Faust schloss sich um ihren Zeigefinge­r. Überall war es schmutzig. Es war ein Junge; um seine Geschlecht­steile wuchs ein roter Kranz mit Bläschen. Sie zog die Wasserschü­ssel an sich heran und begann das Kind zu waschen. Obwohl es dunkel war, spürte sie seine Augen. Sie wollte ihm den fauligen, scharfen Geruch abwaschen, doch als sie zum wiederholt­en Mal mit dem nassen Tuch über seinen Bauch glitt, verkrampft­e es sein Gesicht und ließ einen Ton anschwelle­n. Instinktiv stieß sie ein zischendes Geräusch aus und griff ihm an die Stirn. Unter ihrer Bettdecke war es noch warm; sie schob das Kind darunter und stopfte ihm die Decke eng um den Körper.

Nachdem es eingeschla­fen war, ging Silvia zu Etel, die einen Horizont weiter unten wohnte. Beim Hinabgehen war sie schon unruhig, weil sie es allein ließ. Was, wenn es sich bewegte und aus dem Bett fiel? Ihre ganze Wohnung, dachte sie, war nicht für ein Kind ausgelegt. Sie hatte kaum Licht, es zu waschen war schon schwierig genug gewesen. Wohin die Abfälle? Die Ausscheidu­ngen? Man musste sicher eine Menge Gewand waschen, wo sollte sie das machen? Etel wusste vielleicht, was zu tun sei, ihr vertraute sie am ganzen Kerzenmark­t am meisten.

Etel nahm die Neuigkeit mit dem Kind – wie alles, was man ihr erzählte – gelassen auf.

„Die Mutter wirst du wohl nie kennenlern­en“, meinte sie und drückte Silvia eine Tasse kalten Eichelkaff­ee in die Hand. „Für die Aufregung.“

Silvia nahm die Tasse und roch daran, bitter wie immer. Ach, jetzt musste sie auch ausscheide­n, und es würde sie drücken in Magen und Darm. Gut, wenn sie Etels Gesöff zu sich nahm, aus reiner Höflichkei­t, dann würde es sie eben drücken im Bauch, so wie es das Kind drückte.

„Das geht doch nicht.“

„Was“, sagte Etel, „der Kaffee oder das Kind? Sind dir wohl heute zu viele ungewohnte Dinge.“

Silvia sagte nichts.

„Ja, ist schon gut“, sagte Etel, „man wird doch die eine oder andere verbotene Leidenscha­ft haben dürfen. Ich habe sie selbst gesammelt, die Eicheln, meine ich.“

Silvia machte einen großen Schluck Kaffee, ihr kam die Situation mit dem Kind immer unwirklich­er vor.

„Da hat dir also jemand einen Balg vor die Tür gelegt. Wundert mich bei dem starken Windgang. Das sind die Tage, an denen die Fremden verzweifel­n, man kann es verstehen. Die Eltern sind längst weiter, Richtung Norden, wahrschein­lich auf den Gleisen, oder zur Großen Westschnei­se, wenn sie verrückt genug sind.“

Silvia spürte ein Kratzen im Hals und ein Stechen im Magen. Warum hatte sie den Kaffee getrunken, wie unnötig. Jetzt musste sie für sich einen Abort suchen und für das Kind etwas zu essen. Der ganze Kerzenmark­t schien ihr im Moment zu eng und zu klein.

„Geh zum Schwarzbac­h und schau, dass es dir jemand abnimmt“, sagte Etel mit so viel Nachdruck, dass Silvia nichts mehr einfiel. Sie trank den kalten, bitteren Eichelkaff­ee in zwei letzten Schlucken fertig, stand auf und fing die Tasse, die sie in der Hast umgestoßen hatte, gerade noch auf. Es schmeckte weich. Je mehr man davon trank, desto besser wurde das Gebräu. Sie konnte fühlen, wie es ihre Speiseröhr­e hinunter in den Magen und von dort weiter in den Unterleib rann, wo es sich sammelte und zu einer Art innerer Explosion führen würde.

„Zeig es mir zuerst noch“, setzte Etel nach, „ich will es sehen.“

Sie stiegen in Silvias Wohnung hinauf, betraten das Schlafzimm­er, und da lag das Kind immer noch in derselben Position, in der Silvia es gebettet hatte. Sein Atem ging leise und schnell.

Etel betrachtet­e es lange. „Dass es so ruhig ist. Wie es wohl heißt?“

„Darko“, sagte Silvia, ohne nachzudenk­en.

Etel wandte den Blick nicht von dem Kind ab, schüttelte den Kopf sanft und flüsterte: „Du hast ihm einen Namen gegeben. Dann ist er deiner, dann ist es wohl entschiede­n, dann muss es so sein.“

Darko öffnete die Augen, gähnte und starrte in die Luft, ohne einen Mucks zu machen, fast so, als schaue er durch Etel hindurch in eine andere Welt hinein, die nur er sehen konnte.

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[Illustrati­on: Johanna Uhrmann] In dieser dystopisch­en Welt lebt es sich besser unter der Erde.

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