Acht Schritte bis zum Femizid
Der gefährlichste Ort für eine Frau ist das Zuhause. Von der Abwärtsspirale einer durch Gewalt und Manipulation geprägten Beziehung erzählt Barbara Rieger im Roman „Eskalationsstufen“.
Der Roman beginnt mit dem Ende: mit dem Ende einer Beziehung, mit dem Endpunkt einer Missbrauchsdynamik, mit den wahrscheinlich letzten Gedanken einer Frau. Auf dem Boden liegend, gefesselt und geknebelt, weiß die Erzählerin, Julia, dass sie die Rückkehr ihres Partners, Joe, nicht überleben wird. Dieses Bild stellt Barbara Rieger an den Anfang von „Eskalationsstufen“, und mit diesem Bild im Kopf wird in den nun folgenden Kapiteln die Beziehung von Julia und Joe von vorne aufgerollt.
In einer anderen Geschichte, einem anderen Roman, hätte das Treffen dieser beiden ein klassisches Meet Cute sein können. Eine zufällige Bekanntschaft, die Funken sprühen, man geht aufeinander zu: Bei einer Ausstellung begegnen sich Julia und Joe und sind sogleich voneinander in den Bann gezogen. Von Beginn an befindet sich die Beziehung aber auch in einer Schieflage: Joe, erfolgreicher Künstler, charismatisch, in gesicherten finanziellen Verhältnissen, immer im Zentrum der Aufmerksamkeit, und Julia, auch sie Künstlerin, aber weniger erfolgreich, mit beiden Beinen im Leben stehend, wenn auch etwas angestrengt von ihrem Brotjob als Deutschtrainerin und nicht besonders glücklich in einer Fernbeziehung. Julia malt Bäume, moderne Landschaftsmalerei, Joe malt tote Frauen.
Von Beginn an ist Julia so fasziniert wie irritiert von Joes Zuneigung. Er aber lässt nicht locker, sie treffen sich, und es funkt. Julia ist verliebt, Joe offenbar auch. Alles scheint gut, doch für die Leser:innen wird sehr schnell klar, dass mit Joe etwas nicht stimmt. Die Beziehung entwickelt sich sehr schnell, es wird ernst, und bald folgt eine Übergriffigkeit der anderen: Love Bombing – Joe schreibt ständig Nachrichten, die sofort beantwortet werden müssen, dann taucht er unangekündigt an Julias Arbeitsplatz auf, und eine Hand ist da, wo Julia sie nicht will. Sie zieht von heute auf morgen bei ihm ein, räumliche Abhängigkeit entsteht, sexuelle Übergriffe, Gaslighting, emotionale Erpressung folgen.
Barbara Rieger taucht tief ein in eine Missbrauchsdynamik, eine zunächst langsame, dann immer schneller werdende Progression der Abhängigkeitsverhältnisse sowie psychischer und physischer Gewalt. Mit manipulativen Beziehungen setzte sich Rieger bereits in ihrem Debütroman „Bis ans Ende, Marie“(2018) auseinander, der die asymmetrische, übergriffige Freundschaft zweier jungen Frauen beschreibt. In ihrem zweiten Roman, „Friss oder stirb“(2020), steht die Essstörung einer Jugendlichen im Fokus, aber auch die dysfunktionale Beziehung zu ihrer Mutter ist zentral. Beziehungen sind gefährlich in den Welten von Barbara Rieger.
In „Eskalationsstufen“, für das ihr bereits der Marianne.von.Willemer-Preis der Stadt Linz verliehen wurde, beschreibt Rieger den
Weg einer missbräuchlichen Beziehung hin zu einem Femizid entlang des Acht-StufenModells der Eskalation, das die Kriminologin Jane Monckton-Smith in langjähriger Forschung entwickelt hat. Was ihre Studie unter anderem eindrucksvoll beweist: Femizide sind keine „Verbrechen aus Leidenschaft“, keine spontanen Ausraster oder „Beziehungstaten“, sondern der Endpunkt eines – immer gleich verlaufenden – kontrollierenden, gewalttätigen Verhaltensmusters.
Rieger baut die acht Kapitel des Romans entlang dieser Eskalationsstufen auf und lässt sich dabei auf die ambivalente Gefühlsund Gedankenwelt Julias ein. Mit Präzision zeichnet sie das Bild einer jungen Frau, die sich Joe nicht entziehen kann. Immer wieder findet sie Rationalisierungen und Entschuldigungen für sein Verhalten, genießt zunächst auch die Aufmerksamkeit, die er ihr und ihrer Kunst schenkt, ganz im Gegensatz zu ihrer Familie, mit der sie eine komplizierte Geschichte verbindet, oder Freundinnen, die zwischen Kindern und ihrem eigenen Leben wenig Zeit haben. Julia ist durchaus reflektiert, ist sich mal mehr, mal weniger im Klaren darüber, was ihr passiert, ist aber gefangen durch Joes Taktiken und bald auch isoliert von den letzten Bezugspersonen. Und dann plötzlich der Einbruch der Pandemie, die noch den letzten Halt auflöst, die Welt noch weiter schrumpfen und die Spirale der Gewalt immer enger werden lässt. Joe und Julia fahren in eine Waldhütte mit dem romantischen Versprechen idyllischer Zweisamkeit, die sich aber als klaustrophobische Einsamkeit entpuppt. Und irgendwann hört Julia die Stimme der von Joe porträtierten Toten, die in ihrem Kopf flüstert und warnt.
Jemanden bildlich oder fotografisch festhalten: Schon die Sprache verrät die Übergriffigkeit, die im Vorgang des Porträtierens stecken kann. Ein Motiv, dessen sich Rieger ausgiebig bedient. „Ich fixiere dich auf Papier“, flüstert Joe etwa in einem auf den ersten Blick romantischen Moment. Schon kurz nach ihrer ersten Begegnung schickt Joe Julia ein Foto, das er heimlich von ihr gemacht hat: „Ich bekomme Lust, wieder lebendige Frauen zu malen“, kommentiert er die seltsame Kontaktaufnahme. Bald darauf soll Julia für Porträts Modell stehen und dabei möglichst tot aussehen.
Joes Bilderzyklus von Frauen, die Femiziden zum Opfer gefallen sind, zu dem ihn seine verschwundene, vermutlich ermordete Ehefrau inspiriert hat, trägt den Titel „My Pictures of You“und hat etwas Brutales, etwas Platzeinforderndes: Sind es doch seine Bilder, seine Wahrnehmung, die hier die Erinnerung an die toten Frauen bestimmen. Julia ist unangenehm berührt von dieser Themenwahl, versucht aber das Offensichtliche auszublenden: „Er ist also mit einer Toten verheiratet und das ist der Grund, die Geschichte, das Geheimnis, die Rechtfertigung, das gibt ihm die Erlaubnis, die toten Frauen zu malen, das ergibt Sinn.“Tatsächlich?
Sprachlich messerscharf zeigt Rieger das Ringen Julias mit diesem Mann, der sich ihrer bemächtigt. Sätze, die sie nicht fertig denkt, deren Ausgang aber überdeutlich ist, ihre Unsicherheit, welcher Realität, welcher Erinnerung – seiner oder der eigenen – sie noch trauen kann, verwirrt vor der als Liebe getarnten Übergriffigkeit, Manipulation und Gewalt: „Eskalationsstufen“macht den Sog dieser Beziehung erahnbar. Barbara Rieger beweist mit diesem dritten Roman einmal mehr meisterhaftes Geschick für die Darstellung zwischenmenschlicher Dynamiken, hautnah an der Realität. Barbara Rieger Eskalationsstufen Roman. 230 S., geb., € 24,95 (Kremayr & Scheriau) Jonathan Lee Joy Roman. Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann. 374 S., geb., € 26,50 (Diogenes)