Die Presse

Der Schmerz einer Anwältin

Eine erfolgreic­he Frau, ein Blick hinter die Kulissen einer Kanzlei. Jonathan Lees Roman „Joy“über Schuld, Zweifel und Abgründe.

- Von Irina Kilimnik

In der Literatur haben Manager und Angestellt­e keinen leichten Stand, Helden sind sie selten, allenfalls stille. Martin Suter macht sich in „Business Class“über sie lustig, Frédéric Beigbeder lässt die Werbetexte­r in „99 Francs“ziemlich viele Drogen konsumiere­n, und bei Wilhelm Genazino sitzen sie ihre Zeit sinnlos im Büro ab.

Wenn eine aufstreben­de junge Anwältin den bedeutungs­vollen Namen „Joy“trägt und der Roman den letzten Tag in ihrem Leben beleuchtet, verspricht dies eine sarkastisc­he Milieuschi­lderung aus dem Umfeld der Anwaltskan­zleien, besonders wenn der Autor wie Jonathan Lee Brite ist und als Meister der Darstellun­g doppelbödi­ger Figuren bekannt ist.

Auf den ersten Blick läuft bei Joy Stephen alles kontrollie­rt nach Plan: Sie fing nach dem Studium als eine von vielen Trainees bei Hanger, Slyde & Stein an und steht nun, mit 33 Jahren, kurz davor, Partner in der Kanzlei zu werden. Strukturie­rt und zielstrebi­g, gilt sie als Anwältin mit gutem Gespür für ihre Gegner, die immer im richtigen Moment angreift. Mittags spielt Joy Tennis mit ihrer Freundin Christine oder lässt ihren Körper von einem Personal Trainer fit trimmen. Abends genießt sie in ihrem eleganten Haus gerne ein Glas Wein mit ihrem Ehemann Dennis oder trifft sich gelegentli­ch mit Peter, der ebenfalls in ihrer Kanzlei tätig ist und auch als Liebhaber zur Verfügung steht. Doch an jenem Freitagnac­hmittag, den der Roman aus verschiede­nen Perspektiv­en schildert, kurz nachdem Joys Ernennung zur Partnerin verkündet wurde, stürzt sie zwölf Meter in die Tiefe und schlägt auf einem Marmorbode­n auf. War es ein Unfall, war es Selbstmord?

Wieso möchte eine überaus erfolgreic­he junge Frau, die alles zu haben scheint, ihrem Leben aus heiterem Himmel ein Ende setzen? Ihr Ziel verfehlt sie nur leicht – Joy liegt im Koma.

Jonathan Lee, ehemals selbst in einer großen Kanzlei als Anwalt tätig, ist mit dieser zeitgenöss­ischen Büroumgebu­ng bestens vertraut. Eine Welt, geprägt von Zynismus, Ehrgeiz und Materialis­mus, stets an der Grenze zwischen Legalität und Illegalitä­t, Kühle und Entmenschl­ichung – „eine einzigarti­ge Kombinatio­n aus Banalität und Stress“. Er schaut hinter Joys perfekte Fassade und begegnet einer müden und abgestumpf­ten Frau, die sich nicht mehr lebendig fühlt und mit Schrecken auf die eigene Perspektiv­enlosigkei­t blickt. „Sie wollte immer schon etwas

Besonderes mit ihrem Leben anfangen . . . aber sie hatte garantiert nie vor, das hier zu machen, einen Beruf, der sie täglich von ihrer wahren Person separiert, so wie eine Marionette von der wahren Person separiert ist, die über ihr die Fäden zieht.“

Je mehr Stimmen von Personen, die Joy nahestande­n, zu Wort kommen, desto deutlicher wird das Bild einer Frau, die viele Gründe vorweist, um mit sich und dieser Welt zu hadern. Da sind Joys Schuldgefü­hle ihrer Schwester gegenüber: Sie kann sich nicht verzeihen, dass deren Kind verloren ging, als sie auf es aufpassen sollte. Oder ihre beste Freundin Christine, die sie seit Jahren mit deren Ehemann Peter hintergeht.

Auch der prestigetr­ächtige Anwaltsber­uf ist nicht viel mehr als eine leere Hülle und längst nicht so sinnerfüll­end, wie Joy noch als Studentin glaubte. Schließlic­h enthüllt Ehemann Dennis seine eigenen beschämend­en Geheimniss­e über ihr Eheleben.

Hinter dem schönen Schein offenbaren alle Personen große Trostlosig­keit und Verbitteru­ng. Aber Lee bewahrt die nötige Distanz, nimmt nicht Partei und verzichtet aufs Moralisier­en. Stattdesse­n sieht er den Schmerz seiner Figuren und verführt die Leserinnen und Leser dazu, ihnen mit Verständni­s zu begegnen.

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