Es ist tragisch, dass Putins Regime Alexej Nawalny überlebt
Putin ließ Nawalny unerbittlich verfolgen. Sein Kampf gegen den „inneren“Feind zeugte von Brutalität, die sich im Ukraine-Krieg nach außen entlud.
Wladimir Putin besichtigte gerade eine Fabrik in Tscheljabinsk, als die Nachricht vom Tod seines Widersachers eintraf. Der russische Präsident sei über das Ableben von Alexej Nawalny unterrichtet worden, hieß es. Der Kreml habe nicht vor, auf das Unglück mit irgendwelchen Anweisungen zu reagieren, erklärte wenig später Putins Sprecher, Dmitrij Peskow. Die Sache liege bei der Strafvollzugsbehörde.
Die Botschaft des Kreml war klar: Ein einfacher Straftäter ist also gestorben. Was juckt das Putin? Der Besuch des Präsidenten lief planmäßig weiter. Ein Treffen mit Werktätigen und Studenten stand auf dem Programm. Putins Laune war ganz offensichtlich großartig.
Die ausbleibende Reaktion des russischen Präsidenten ist menschenverachtend, sie ist brutal, aber sie ist nicht verwunderlich. Sie ist typisch für ihn und seinen erbitterten Kampf gegen Alexej Nawalny.
Es ist das Verhalten eines Mannes, der Nawalny auf dem Gewissen hat. Der Kreml-Chef übergeht den Tod seines schärfsten Kritikers kaltschnäuzig, wie er schon früher dessen (wahrscheinlich von ihm selbst in Auftrag gegebene) Vergiftung durch Nowitschok und dessen nachfolgenden gesundheitlichen Überlebenskampf weitgehend unkommentiert gelassen hat.
Auch die spätere Verhaftung und die an den Haaren herbeigezogene Strafverfolgung Nawalnys hat er ignoriert. Putin vermied stets die Erwähnung von Nawalnys Familiennamen und nannte den einzigen Politiker in Russland, der ihn offen herausforderte, gern herablassend einen „Blogger“.
In der Konfrontation mit Nawalny kannte Putin seit jeher nur Härte. Putin sah in ihm eine Bedrohung seiner Macht. Die Zuspitzung seines autoritären Kurses, die zunehmende Brutalisierung des Regimes im Kampf gegen seine „inneren Feinde“, die sich später nach außen, gegen die Ukraine, entladen sollte – sie hat in der Person Nawalnys ihren Ausgang genommen. Die gefügigen bürokratischen Arme des Regimes haben zuerst das politische Werk Nawalnys, seine Organisation und schließlich das Leben Nawalnys und seiner Familie zerstört.
Starb der Oppositionspolitiker also wirklich an den Folgen eines Blutgerinnsels, wie russische Kreml-treue Medien umgehend behaupteten? Oder haben seine Verfolger selbst Hand angelegt? Von der Öffentlichkeit weggesperrt, wie er war, wäre eine neuerliche Attacke auf sein Leben jedenfalls ein Leichtes gewesen.
Russland wird wohl eine medizinische Expertise vorlegen. Doch die Umstände seines Todes werden zuverlässig nicht aufgeklärt werden können, solang der jetzige Präsident das Sagen hat. Fest steht: Im Gefängnis sollte der Putin-Gegner gebrochen und fertiggemacht werden. Ein tödlicher „Unfall“war immer eingepreist. Nawalnys Entlassung war zu Putins Lebzeiten nicht vorgesehen. Nawalny wusste, dass ihm ein langsamer Tod drohte. Er kämpfte weiter.
Für Russland ist es tragisch, dass das Regime des 71-jährigen Putin den 47-jährigen Nawalny überlebt. Wladimir Putins Herrschaft ist an einem Punkt angelangt, an dem es keine Gegenstimmen mehr geben darf – selbst wenn sie hinter Kerkermauern erklingen. Das Regime kann nur noch mit Härte reagieren, alles andere könnte als Schwäche ausgelegt werden. Ist mit dem Tod Nawalnys ein Kulminationspunkt der Verfolgung erreicht? Zu hoffen wäre es. Zu befürchten ist, dass noch andere Opfer folgen.
Nawalny war eine Führungspersönlichkeit, ein Vollblutpolitiker. Er war ein tapferer, unheimlich starker Mensch. Sein Mut war überlebensgroß. Seine erbitterte Gegnerschaft zum Kreml-Chef, seine mit Witz vorgetragenen Enthüllungen über dessen autoritäre sowie selbstherrliche Herrschaft und sein Kampf dafür, dass Russland eine andere Richtung einschlagen könnte, gaben vielen anderen Mut.
Seine Entscheidung, nach seiner Vergiftung nach Russland zurückzukehren, haben viele im Westen nicht verstanden. Warum tat er das bloß? Nawalny war schon zu Lebzeiten ein russischer Held. Er blieb seiner Sache treu, treu bis in den Tod.