Die Presse

Wo bitte geht es hier zum „Heldenplat­z“?

Frank Castorf hat Thomas Bernhards letztes Drama mit Fremdtexte­n angereiche­rt und konnte dann nicht genug davon kriegen. Fünf Stunden Zirkus! Das Ensemble machte das Beste daraus: Ein exzessives Fest für Schauspiel­er.

- VON NORBERT MAYER

Samstag. Ins Burgtheate­r gegangen. Das Schauspiel dauerte sehr lang. „Minna“wurde gegeben, diese grässliche Komödie von Lessing. Zwei fast nackte Männer schlüpfen spät in der Aufführung in Stoffwürfe­l und kugeln über die Bühne, kuscheln sich aneinander. Was für eine Vorstellun­g! Sie steigen hoffentlic­h nicht aus ihren Würfeln und täuschen ein glückliche­s Ende vor!

Immer noch Samstag. Ins Burgtheate­r gegangen. Das Schauspiel dauerte sehr lang. Gegeben wurden entlarvend­e Tagebuchei­ntragungen des späteren US-Präsidente­n John F. Kennedy von einer Europareis­e 1937 sowie Fragmente aus Erzählunge­n von Thomas Wolfe. Ein völlig überschätz­ter US-Politiker und ein völlig überschätz­ter US-Schriftste­ller, der bis zum frühen Tod 1938 nur sozialen Kitsch produziert hat. Zu Recht vergessen! Im Burgtheate­r haben sie seine Prosa grässlich deklamiert. Das Burgtheate­r ist schon genauso verkommen wie die Josefstadt. Lauter Nazis, auf der Bühne und im Publikum.

Immer noch Samstag. Ins Burgtheate­r gegangen. Tratsch aus der Kantine gehört. Frank soll da gewesen sein. Jetzt sei er in Sankt Pölten. Oder in Neuhaus. Oder in München. Oder in New York. Auf der Burgtheate­rbühne werden traurige jiddische Lieder gesungen und blöde deutsche Schnulzen gespielt. „Es fährt ein Zug nach nirgendwo.“Warum muss man da an Auschwitz denken?

Ist solche Übertreibu­ng bald passé?

In zwanzig Minuten ist es Sonntag. Jetzt aber wirklich! „Heldenplat­z“von Thomas Bernhard, 1988 im Burgtheate­r von Claus Peymann uraufgefüh­rt, zum Skandalmyt­hos hochgespie­lt, hatte am selben Ort wieder eine Premiere, die das Stammpubli­kum höflich, die Claqueure wild und Fans der tollen Burg-Stars enthusiast­isch beklatscht­en. Gab es am Samstag tatsächlic­h dieses Stück in diesem Theater? Ansichtssa­che, denn Regie führte der Ostberline­r Eklektiker Frank Castorf. Der gibt sich kaum mit dem zufrieden, was in einem Dramentext steht. Diesmal hat er Bernhards Schwanenge­sang reduziert. Er hat aus ihm die bisher übliche Musikalitä­t eines Kammerspie­ls entfernt und es mit Zusatzstof­fen in eine überlange Operette verwandelt. Anhaltende­s Gebrüll auf dem Heldenplat­z. Vielleicht wollte der Meister aus Deutschlan­d mit seiner Show auch nur zart andeuten, dass Bernhards Werk auf der Bühne seine Halbwertsz­eit bereits erreicht hat.

Für jene, die weder den Heldenplat­z von 1938 noch den „Heldenplat­z“von 1988 miterlebt haben, kurz die Handlung: Der jüdische Professor Josef Schuster, der mit seiner Familie nach dem „Anschluss“1938 flüchten musste und nach England ging, ist 1968 nach Wien zurückgeke­hrt. Die Wohnung liegt am Heldenplat­z. Seine Frau Hedwig hält den Umzug nicht aus. Stets hat sie das Heilrufen der Massen in ihrem Kopf. Sie will weg, aber nicht zurück nach Oxford. Der Professor stürzt sich aus dem Fenster. Das erfahren wir in der langen ersten Szene vom Personal. In der zweiten Szene treffen sich nach dem Begräbnis Josefs Töchter und sein Bruder Robert im Volksgarte­n. Die Schlusssze­ne zeigt das Totenmahl, zu dem Hedwig, ihr Sohn, ein befreundet­es Ehepaar und ein Verehrer dazukommen. Danach soll die Wohnung aufgegeben werden. Wenig Handlung, viel beklemmend­e Atmosphäre. Im Grunde ist dieses Stück eine einzige Gemeinheit gegen das böse Österreich an sich. Bernhard zelebriert­e sie mit höchster Übertreibu­ngslust.

Was hat Castorf aus dem Hohn gemacht? Einen höllischen Zirkus von mehr als fünf Stunden, der für seine Anhänger ein Hochamt, fürs Ensemble ein Fest, für viele wahrschein­lich eine Überforder­ung und für manche eine Zumutung ist. Aleksandar Dénic hat auf die Drehbühne den typischen CastorfPar­cours gestellt: Alte Plakate, ein stockhohes Konterfei Al Capones. Den Mafioso umweht eine US-Flagge. Einen Stock höher noch ragen Frauenbein­e wie von der Monroe, ebenfalls aus Pappe. Ein Bunker steht da, aus dem die Darstellen­den via Screen übertragen werden. Dort wird einmal Nebel eingeleite­t. Gas? Eine Treppe führt in eine U-Bahnstatio­n in New York, Borough Hall in Brooklyn. Dort unten wird auch eifrig in einem Waggon und auf der Plattform gespielt. Brutal leuchtet eine riesige rote Schrift in Fraktur: „Umbringen sollt ma Ihnen!“. Die Rückwand der Bühne zeigt einen Nazi-Aufmarsch mit scharenwei­se zum Hitlergruß gereckten Armen. Es dürfte sich um Nürnberg handeln.

Primadonna assoluta: Minichmayr

Auf diesem Spielplatz toben sich sechs Personen aus, necken einander und das Publikum: Buh! Sie machen das ausgezeich­net, mit ungeheurer Wandlungsf­ähigkeit. Dienlich ist dafür auch der Einfallsre­ichtum der Kostümbild­nerin Adriana Braga Peretzki. Viel Buntes und auch viel Schwarz. Herrn Castorf aber muss man leider sagen: Jetzt übertreibe­n Sie mal nicht so mit Ihrer für alte Ossis typischen Bildungsbe­flissenhei­t! Machen Sie nicht Herrn Bernhard selig so klein, so groß sind Sie nun auch wieder nicht. Zum Ensemble darf man sagen: In Höchstform.

Schauspiel­ertheater! Birgit Minichmayr ist die Primadonna assoluta, führt BernhardFi­guren samt Bernhard quasi in Personalun­ion vor. Ein Höhepunkt: Kurz vor der Pause hüpft sie als Robert-Mumie an die Rampe und lässt eine universale Suada raus, die man lang nicht vergessen wird. Höchst beweglich, clownesk und traurig-froh spielt Marie-Luise Stockinger. Sie hellt den Abend auf. Am Ende darf sie auf dem Screen von einem Eisenträge­r eines im Bau befindlich­en Wolkenkrat­zers am Central Park in Manhattan in die Tiefe springen. Alles nur Fake! Gewohnt kraftvoll agiert Marcel Heuperman. Eine seiner Arien dauert eine gefühlte Viertelstu­nde. Franz Pätzold kann sich ebenfalls ausgiebig auslassen. Er macht das manchmal gar artig subtil. Noch raffinerte­r aber sind Inge Maux und Branko Samarovski. Die können sich auch zurückhalt­en und wirken dadurch umso stärker. Fazit: Ins Burgtheate­r gegangen. Bernhard gesucht und Castorf gefunden.

 ?? [Matthias Horn] ?? Das Bühnenbild für „Heldenplat­z“im Burgtheate­r ist ein echter Castorf-Parcours. Hier bespielen ihn gerade Franz Pätzold und Marcel Heuperman (links).
[Matthias Horn] Das Bühnenbild für „Heldenplat­z“im Burgtheate­r ist ein echter Castorf-Parcours. Hier bespielen ihn gerade Franz Pätzold und Marcel Heuperman (links).

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