Ich, der Bleistift, bin traurig
Keine einzige Person auf dieser Erde weiß im Detail, wie ein Bleistift hergestellt wird. Nun soll es in der Europäischen Union ein Lieferkettengesetz geben.
1958 schrieb Leonhard E. Read einen Essay über den Stammbaum des Bleistifts. Read illustrierte die Überlegenheit des freien Marktes gegenüber jeglicher Planwirtschaft am Beispiel der Lieferkette eines Bleistifts. Der Essay wurde berühmt. Selbst auf YouTube findet man heute einen siebenminütigen Film „Ich, der Bleistift“. Angesichts des geplanten EU-Lieferkettengesetzes muss der Bleistift seine Geschichte heute ergänzen:
„Ich, der Bleistift, bin ein Wunder. So einfach ich zu sein scheine, so komplex ist mein Werdegang. Keine einzige Person auf dieser Erde weiß im Detail, wie ich hergestellt werde. Ich bestehe aus Holz, Lack, Gravur, Graphitblei, ein bisschen Metall und Radiergummi. Allein für die Beschaffung des Holzes braucht man Baumfäller mit Sägen. Schiffe und Lkws bringen das Holz in die Bleistiftfabrik. Der Graphit wird mit Ton vermischt, wobei Ammoniumhydroxit im Veredelungsprozess verwendet wird. Das Holz enthält sieben Lackschichten. Die Gravur braucht Harze. Für das Messing müssen Zink und Kupfer abgebaut werden. Der Gummi entsteht aus einer Reaktion von Rapsöl mit Schwefelchlorid. Möchte jetzt noch jemand meine Behauptung infrage stellen, dass keine Einzelperson auf dieser Erde weiß, wie ich hergestellt werde?
Ich, der Bleistift, bin eine komplexe Kombination von Wundern: ein Baum, Zink, Kupfer, Graphit usw. Aber zu diesen Wundern, die sich in der Natur offenbaren, gesellt sich ein weiteres Wunder: der Aspekt menschlicher schöpferischer Energien – Millionen winziger Wissenselemente, Fähigkeiten, die sich natürlich als Antwort auf menschliche Bedürfnisse und Wünsche ergeben. Diese spontane Ordnung stellt sich ganz ohne zentrale menschliche Führungspersönlichkeit ein.
Die Lehre, die ich zu erteilen habe: Lasst alle kreativen Energien unbehindert. Die Rechtsordnung der Gesellschaft soll alle Hindernisse so gut wie möglich entfernen. Glaubt an die Freiheit.
Und nun soll es in der EU ein verfassungsrechtlich bedenkliches Lieferkettengesetz geben. Größere Unternehmen sollen global verpflichtet werden, negative Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf Menschenrechte und die Umwelt zu identifizieren und gegebenenfalls zu verhindern, zu beenden oder abzuschwächen. Dazu gehören Aspekte wie Kinderarbeit, Sklaverei, Arbeitsausbeutung, Umweltverschmutzung, Umweltzerstörung und der Verlust der Artenvielfalt. Sie sollen die Auswirkungen ihrer Wertschöpfungspartner entlang der gesamten vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette überwachen und bewerten, einschließlich Rohstofflieferanten, Entwicklung und Produktion, Verkauf, Vertrieb, Transport, Lagerung und Abfallbewirtschaftung.
Ich, der Bleistift, wundere mich über den moralisch verbrämten Neokolonialismus. Die Staaten dürfen sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer einmischen und nehmen die eigenen Unternehmen in die Pflicht. Mit seinem Missionseifer wird sich das europäische Wesen weltweit keine Freunde machen. Die planwirtschaftliche Versuchung kommt einmal mehr im Gewand der Weltverbesserung daher. Wieder einmal ist der Weg zur Hölle mit den besten Vorsätzen gepflastert.
Ich, der Bleistift, bin traurig. Im Namen der Menschenrechte geht ein großes Stück Freiheit verloren.“