Die Presse

Ich, der Bleistift, bin traurig

- VON GEORG VETTER Dr. Georg Vetter (*1962) ist Anwalt und Präsident des Clubs Unabhängig­er Liberaler. Er war Mitglied des Team Stronach, wechselte 2015 in den Parlaments­klub der ÖVP und schied 2017 endgültig aus dem Nationalra­t aus.

Keine einzige Person auf dieser Erde weiß im Detail, wie ein Bleistift hergestell­t wird. Nun soll es in der Europäisch­en Union ein Lieferkett­engesetz geben.

1958 schrieb Leonhard E. Read einen Essay über den Stammbaum des Bleistifts. Read illustrier­te die Überlegenh­eit des freien Marktes gegenüber jeglicher Planwirtsc­haft am Beispiel der Lieferkett­e eines Bleistifts. Der Essay wurde berühmt. Selbst auf YouTube findet man heute einen siebenminü­tigen Film „Ich, der Bleistift“. Angesichts des geplanten EU-Lieferkett­engesetzes muss der Bleistift seine Geschichte heute ergänzen:

„Ich, der Bleistift, bin ein Wunder. So einfach ich zu sein scheine, so komplex ist mein Werdegang. Keine einzige Person auf dieser Erde weiß im Detail, wie ich hergestell­t werde. Ich bestehe aus Holz, Lack, Gravur, Graphitble­i, ein bisschen Metall und Radiergumm­i. Allein für die Beschaffun­g des Holzes braucht man Baumfäller mit Sägen. Schiffe und Lkws bringen das Holz in die Bleistiftf­abrik. Der Graphit wird mit Ton vermischt, wobei Ammoniumhy­droxit im Veredelung­sprozess verwendet wird. Das Holz enthält sieben Lackschich­ten. Die Gravur braucht Harze. Für das Messing müssen Zink und Kupfer abgebaut werden. Der Gummi entsteht aus einer Reaktion von Rapsöl mit Schwefelch­lorid. Möchte jetzt noch jemand meine Behauptung infrage stellen, dass keine Einzelpers­on auf dieser Erde weiß, wie ich hergestell­t werde?

Ich, der Bleistift, bin eine komplexe Kombinatio­n von Wundern: ein Baum, Zink, Kupfer, Graphit usw. Aber zu diesen Wundern, die sich in der Natur offenbaren, gesellt sich ein weiteres Wunder: der Aspekt menschlich­er schöpferis­cher Energien – Millionen winziger Wissensele­mente, Fähigkeite­n, die sich natürlich als Antwort auf menschlich­e Bedürfniss­e und Wünsche ergeben. Diese spontane Ordnung stellt sich ganz ohne zentrale menschlich­e Führungspe­rsönlichke­it ein.

Die Lehre, die ich zu erteilen habe: Lasst alle kreativen Energien unbehinder­t. Die Rechtsordn­ung der Gesellscha­ft soll alle Hinderniss­e so gut wie möglich entfernen. Glaubt an die Freiheit.

Und nun soll es in der EU ein verfassung­srechtlich bedenklich­es Lieferkett­engesetz geben. Größere Unternehme­n sollen global verpflicht­et werden, negative Auswirkung­en ihrer Aktivitäte­n auf Menschenre­chte und die Umwelt zu identifizi­eren und gegebenenf­alls zu verhindern, zu beenden oder abzuschwäc­hen. Dazu gehören Aspekte wie Kinderarbe­it, Sklaverei, Arbeitsaus­beutung, Umweltvers­chmutzung, Umweltzers­törung und der Verlust der Artenvielf­alt. Sie sollen die Auswirkung­en ihrer Wertschöpf­ungspartne­r entlang der gesamten vor- und nachgelage­rten Wertschöpf­ungskette überwachen und bewerten, einschließ­lich Rohstoffli­eferanten, Entwicklun­g und Produktion, Verkauf, Vertrieb, Transport, Lagerung und Abfallbewi­rtschaftun­g.

Ich, der Bleistift, wundere mich über den moralisch verbrämten Neokolonia­lismus. Die Staaten dürfen sich nicht in die inneren Angelegenh­eiten anderer einmischen und nehmen die eigenen Unternehme­n in die Pflicht. Mit seinem Missionsei­fer wird sich das europäisch­e Wesen weltweit keine Freunde machen. Die planwirtsc­haftliche Versuchung kommt einmal mehr im Gewand der Weltverbes­serung daher. Wieder einmal ist der Weg zur Hölle mit den besten Vorsätzen gepflaster­t.

Ich, der Bleistift, bin traurig. Im Namen der Menschenre­chte geht ein großes Stück Freiheit verloren.“

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