Die Zinswende hat unerwünschte Folgen
Die Zentralbanken müssen wohl mit negativem Eigenkapital arbeiten. Ist das wirtschaftlich und rechtlich möglich?
Die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken (NZB) stecken in einer Bredouille, denn die Zinswende, mit der die Inflation bekämpft werden soll, hat unerwünschte Folgen: Die Zentralbanken müssen Milliarden an die Banken zahlen. Infolge der umfangreichen Anleihekaufprogramme der EZB und der NZB seit 2015 haben die Banken große Mengen an Bankreserven angesammelt. Diese werden nun mit einem Zinssatz von vier Prozent verzinst. Dies hat unweigerlich zu großen Verlusten bei der EZB und den NZB geführt und könnte nunmehr dazu führen, dass die EZB und (einige) NZB mit negativem Eigenkapital arbeiten müssen, was wiederum die Frage aufwirft, ob dies wirtschaftlich und rechtlich möglich ist.
Das Kapital der EZB wird ausschließlich von den NZB gehalten. Der Rat der EU (d. h. die Mitgliedstaaten) legt den Höchstbetrag fest. Der EZB-Rat kann eine Kapitalerhöhung innerhalb der von den Mitgliedstaaten im Rat der EU festgelegten Obergrenze beschließen. Nur mithilfe eines gemeinsamen Beschlusses können die Mitgliedstaaten das Kapital der EZB über diese Grenze hinaus weiterhin erhöhen. In der ESZB-Satzung ist auch festgelegt, wie die Gewinne der EZB zu verteilen sind. Im Gegensatz dazu entscheiden die Mitgliedstaaten autonom darüber, wie die Gewinne ihrer Zentralbanken verteilt werden. Dabei ist es nicht unüblich, diese in die Bundeshaushalte fließen zu lassen.
Nationale Haushalte belastet
Dies verdeutlicht auch, weshalb die Frage der Zentralbankgewinne und -verluste in jüngster Zeit so relevant geworden ist: In der jüngeren Vergangenheit erhielten die Regierungen der Mitgliedstaaten umfangreiche Transfers durch ihre NZB, welche nun wegfallen, was wiederum die nationalen Haushalte belastet. Darüber hinaus haben die hohen Verluste der NZB die Frage nach einer möglichen Rekapitalisierung der
Zentralbank aufgeworfen. So sieht Artikel 33 der ESZB-Satzung vor, dass bis zu 20 Prozent der Gewinne der EZB dem allgemeinen Reservefonds zugeführt werden können, dessen Gesamtbetrag 100 Prozent des Kapitals der EZB nicht überschreiten darf. Dieser Fonds kann zum Ausgleich von Verlusten der EZB verwendet werden. Die übrigen Gewinne der EZB werden an die NZB entsprechend ihren eingezahlten Anteilen verteilt. Sollten die im allgemeinen Reservefonds verfügbaren Mittel nicht ausreichen, um die Verluste der EZB auszugleichen, können die monetären Einkünfte des betreffenden Jahres auf Beschluss des EZB-Rates verwendet werden, um die Lücke zu schließen.
Sache der Mitgliedstaaten
Die EU-Verträge sagen jedoch nichts darüber aus, ob die EZB mit negativem Eigenkapital arbeiten kann (oder nicht). Es muss daher davon ausgegangen werden, dass es der EZB rechtlich möglich ist, mit negativem Eigenkapital zu arbeiten. Auch eine automatische Rekapitalisierung ist nicht vorgesehen. Sollte die EZB also weiterhin Verluste machen, könnte sie rechtlich gesehen mit negativem Eigenkapital arbeiten, ohne dass die Regierungen der Mitgliedstaaten die EZB über ihre NZB rekapitalisieren müssen. Da die EU verpflichtet ist, die Verfassungsidentität ihrer Mitgliedstaaten zu respektieren, ist es auch Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats zu entscheiden, ob seine NZB mit negativem Eigenkapital arbeiten darf. Nur sehr wenige von ihnen – zu denen Österreich nicht gehört – haben sich für eine automatische Rekapitalisierung entschieden. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es kein Problem, mit negativem Eigenkapital zu arbeiten.
Gelegentlich wird behauptet, dass die Unabhängigkeit einer Zentralbank durch negatives Eigenkapital gefährdet sein könnte. Beeinträchtigt negatives Eigenkapital nun die Unabhängigkeit einer Zentralbank? Wir sind der Meinung, dass dies nicht der Fall ist, weder rechtlich noch wirtschaftlich. Rechtlich gesehen gäbe es nur ein Hindernis dafür, nämlich wenn die finanzielle Unabhängigkeit einer NZB in den Augen der EZB gefährdet wäre, d. h. wenn die EZB der Ansicht wäre, dass die betreffende NZB nicht in der Lage ist, ihre Aufgaben im Rahmen des ESZB zu erfüllen. Ein solches Szenario erscheint allerdings als besonders unwahrscheinlich.
Ungerechtfertigte Kritik
Es könnte jedoch sein, dass negatives Eigenkapital aufseiten der NZB auf Kritik stößt, weil man (zu Unrecht) der Meinung ist, dass negatives Eigenkapital die Geschäfte der Zentralbank und damit ihre Glaubwürdigkeit beeinträchtigt. Wenn dies der Fall ist, können die Regierungen die Zentralbank rekapitalisieren. Im Prinzip könnten also sowohl die EZB als auch die NZB mit negativem Eigenkapital arbeiten, ohne dass dies aus rechtlicher Sicht ein besonderes Problem darstellen würde; sollte jedoch die finanzielle Unabhängigkeit einer NZB gefährdet sein, könnte die EZB ihre Rekapitalisierung verlangen.
Während negatives Eigenkapital weder rechtlich noch wirtschaftlich ein Problem darstellt, ist die Tatsache, dass die Zentralbanken in der Eurozone nun ihre gesamten Gewinne (und mehr) an die Geschäftsbanken abführen, ein ernstes Problem. Für eine solche Großzügigkeit gegenüber den Banken gibt es kein gutes wirtschaftliches Argument. Die Gewinne der Zentralbanken sollten an die Regierungen gehen, die den Zentralbanken das Monopol zur Ausgabe von Geld übertragen haben.