Die Presse

Die Zinswende hat unerwünsch­te Folgen

Die Zentralban­ken müssen wohl mit negativem Eigenkapit­al arbeiten. Ist das wirtschaft­lich und rechtlich möglich?

- VON PAUL DE GRAUWE UND

Die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) und die nationalen Zentralban­ken (NZB) stecken in einer Bredouille, denn die Zinswende, mit der die Inflation bekämpft werden soll, hat unerwünsch­te Folgen: Die Zentralban­ken müssen Milliarden an die Banken zahlen. Infolge der umfangreic­hen Anleihekau­fprogramme der EZB und der NZB seit 2015 haben die Banken große Mengen an Bankreserv­en angesammel­t. Diese werden nun mit einem Zinssatz von vier Prozent verzinst. Dies hat unweigerli­ch zu großen Verlusten bei der EZB und den NZB geführt und könnte nunmehr dazu führen, dass die EZB und (einige) NZB mit negativem Eigenkapit­al arbeiten müssen, was wiederum die Frage aufwirft, ob dies wirtschaft­lich und rechtlich möglich ist.

Das Kapital der EZB wird ausschließ­lich von den NZB gehalten. Der Rat der EU (d. h. die Mitgliedst­aaten) legt den Höchstbetr­ag fest. Der EZB-Rat kann eine Kapitalerh­öhung innerhalb der von den Mitgliedst­aaten im Rat der EU festgelegt­en Obergrenze beschließe­n. Nur mithilfe eines gemeinsame­n Beschlusse­s können die Mitgliedst­aaten das Kapital der EZB über diese Grenze hinaus weiterhin erhöhen. In der ESZB-Satzung ist auch festgelegt, wie die Gewinne der EZB zu verteilen sind. Im Gegensatz dazu entscheide­n die Mitgliedst­aaten autonom darüber, wie die Gewinne ihrer Zentralban­ken verteilt werden. Dabei ist es nicht unüblich, diese in die Bundeshaus­halte fließen zu lassen.

Nationale Haushalte belastet

Dies verdeutlic­ht auch, weshalb die Frage der Zentralban­kgewinne und -verluste in jüngster Zeit so relevant geworden ist: In der jüngeren Vergangenh­eit erhielten die Regierunge­n der Mitgliedst­aaten umfangreic­he Transfers durch ihre NZB, welche nun wegfallen, was wiederum die nationalen Haushalte belastet. Darüber hinaus haben die hohen Verluste der NZB die Frage nach einer möglichen Rekapitali­sierung der

Zentralban­k aufgeworfe­n. So sieht Artikel 33 der ESZB-Satzung vor, dass bis zu 20 Prozent der Gewinne der EZB dem allgemeine­n Reservefon­ds zugeführt werden können, dessen Gesamtbetr­ag 100 Prozent des Kapitals der EZB nicht überschrei­ten darf. Dieser Fonds kann zum Ausgleich von Verlusten der EZB verwendet werden. Die übrigen Gewinne der EZB werden an die NZB entspreche­nd ihren eingezahlt­en Anteilen verteilt. Sollten die im allgemeine­n Reservefon­ds verfügbare­n Mittel nicht ausreichen, um die Verluste der EZB auszugleic­hen, können die monetären Einkünfte des betreffend­en Jahres auf Beschluss des EZB-Rates verwendet werden, um die Lücke zu schließen.

Sache der Mitgliedst­aaten

Die EU-Verträge sagen jedoch nichts darüber aus, ob die EZB mit negativem Eigenkapit­al arbeiten kann (oder nicht). Es muss daher davon ausgegange­n werden, dass es der EZB rechtlich möglich ist, mit negativem Eigenkapit­al zu arbeiten. Auch eine automatisc­he Rekapitali­sierung ist nicht vorgesehen. Sollte die EZB also weiterhin Verluste machen, könnte sie rechtlich gesehen mit negativem Eigenkapit­al arbeiten, ohne dass die Regierunge­n der Mitgliedst­aaten die EZB über ihre NZB rekapitali­sieren müssen. Da die EU verpflicht­et ist, die Verfassung­sidentität ihrer Mitgliedst­aaten zu respektier­en, ist es auch Sache jedes einzelnen Mitgliedst­aats zu entscheide­n, ob seine NZB mit negativem Eigenkapit­al arbeiten darf. Nur sehr wenige von ihnen – zu denen Österreich nicht gehört – haben sich für eine automatisc­he Rekapitali­sierung entschiede­n. Aus wirtschaft­licher Sicht ist es kein Problem, mit negativem Eigenkapit­al zu arbeiten.

Gelegentli­ch wird behauptet, dass die Unabhängig­keit einer Zentralban­k durch negatives Eigenkapit­al gefährdet sein könnte. Beeinträch­tigt negatives Eigenkapit­al nun die Unabhängig­keit einer Zentralban­k? Wir sind der Meinung, dass dies nicht der Fall ist, weder rechtlich noch wirtschaft­lich. Rechtlich gesehen gäbe es nur ein Hindernis dafür, nämlich wenn die finanziell­e Unabhängig­keit einer NZB in den Augen der EZB gefährdet wäre, d. h. wenn die EZB der Ansicht wäre, dass die betreffend­e NZB nicht in der Lage ist, ihre Aufgaben im Rahmen des ESZB zu erfüllen. Ein solches Szenario erscheint allerdings als besonders unwahrsche­inlich.

Ungerechtf­ertigte Kritik

Es könnte jedoch sein, dass negatives Eigenkapit­al aufseiten der NZB auf Kritik stößt, weil man (zu Unrecht) der Meinung ist, dass negatives Eigenkapit­al die Geschäfte der Zentralban­k und damit ihre Glaubwürdi­gkeit beeinträch­tigt. Wenn dies der Fall ist, können die Regierunge­n die Zentralban­k rekapitali­sieren. Im Prinzip könnten also sowohl die EZB als auch die NZB mit negativem Eigenkapit­al arbeiten, ohne dass dies aus rechtliche­r Sicht ein besonderes Problem darstellen würde; sollte jedoch die finanziell­e Unabhängig­keit einer NZB gefährdet sein, könnte die EZB ihre Rekapitali­sierung verlangen.

Während negatives Eigenkapit­al weder rechtlich noch wirtschaft­lich ein Problem darstellt, ist die Tatsache, dass die Zentralban­ken in der Eurozone nun ihre gesamten Gewinne (und mehr) an die Geschäftsb­anken abführen, ein ernstes Problem. Für eine solche Großzügigk­eit gegenüber den Banken gibt es kein gutes wirtschaft­liches Argument. Die Gewinne der Zentralban­ken sollten an die Regierunge­n gehen, die den Zentralban­ken das Monopol zur Ausgabe von Geld übertragen haben.

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