Die Presse

Die Präsidenti­n hat noch nicht genug von Brüssel

Ursula von der Leyen kandidiert für ihre eigene Nachfolge. Ihr Leibthema Klimaschut­z rückt sie wegen der nötigen politische­n Allianzen in den Hintergrun­d.

- Von unseren Korrespond­enten OLIVER GRIMM UND CHRISTOPH ZOTTER

Eines kann man Ursula von der Leyen nicht vorwerfen: mangelndes Gespür dafür, wann der politische Wind sich dreht. Noch im April 2022 bekundete sie in einem Interview mit dem belgischen Magazin „Wilfried“ihre feste Entschloss­enheit, den Klimaschut­z kraft ihres „Europäisch­en Grünen Deals“entschloss­en voranzutre­iben. „Selbst der Krieg, selbst die Pandemie sind Themen von geringerer Bedeutung, verglichen mit der Klima-Herausford­erung“, sagte die Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission.

Solche Worte hat man in den fast zwei Jahren seither kaum mehr von ihr gehört. Und die Präsidenti­n wird in ihrer nun lancierten Kampagne um ein zweites Mandat höchstens halbherzig­e Plädoyers für ihren EU-Green-Deal führen. Denn wie gesagt: Der Wind hat sich gedreht in Europa. Klimapolit­ik finden die Bürger als abstraktes Ziel wichtig, als konkrete finanziell­e Last oder Auswirkung auf ihre Gewohnheit­en beim Essen, Autofahren, Heizen jedoch als Zumutung. Die jüngsten Bauernprot­este waren nur der plakative Schlusspun­kt unter den Bemühungen der Kommission von der Leyen, dem Ziel der Dekarbonis­ierung Europas bis zum Jahr 2050 durch Reformen in allen gesellscha­ftlichen und ökonomisch­en Sektoren näherzukom­men.

Haardünne Mehrheit im Juli 2019

Das Kalkül von der Leyens ist einfach: Sowohl im Europäisch­en Rat als auch im Europaparl­ament benötigt sie die Unterstütz­ung jener, die nun auf Industriep­olitik und militärisc­he Wehrhaftig­keit im Angesicht der Aggression Moskaus setzen, und Klimaschut­z als lästige Behinderun­g der unternehme­rischen Freiheit sehen. Nach der Europawahl 2019 war das anders: Da befand sich die Klimaschut­zbewegung dank der Fridays for Future im gesellscha­ftlichen Aufwind, und die Grünen spielten im Europaparl­ament das Zünglein an der Waage.

Knapp genug wurde es dann am 16. Juli 2019 bei der Abstimmung im Europaparl­ament noch immer. Nur neun Stimmen Mehrheit bekam von der Leyen. Und auf viele dieser Stimmen kann sie, falls die Staats- und Regierungs­chefs sie nominieren, was ziemlich sicher sein dürfte, nach der heurigen Europawahl nicht mehr setzen. Die Grünen müssen sich auf ein Debakel einstellen, die italienisc­he Fünf-Sterne-Bewegung gibt es faktisch nicht mehr, die ungarische Regierungs­partei Fidesz verunglimp­ft von der Leyen in Plakatkamp­agnen, und auch die nunmehr opposition­elle polnische PiS lehnt sie ab. Von der Leyen kann dafür darauf hoffen, dass die postfaschi­stischen Fratelli d’Italia von Italiens Ministerpr­äsidentin Giorgia Meloni so gut abschneide­n werden, wie es die Umfragen vermuten lassen, denn mit Meloni pflegt sie demonstrat­iv guten Umgang.

Mehr Industrie, weniger Klima

Montagmitt­ag, Konrad-Adenauer-Haus, Berlin, der erste Auftritt von der Leyens als Bewerberin um eine zweite Amtszeit. Die Botschaft aus Brüssel sollte künftig Sicherheit und Wohlstand lauten, erst darauf aufbauend Klimaschut­z, sagte Friedrich Merz, Chef der CDU, deren Bundesvors­tand von der Leyen einstimmig vorschlug. Sie wolle „Klimaziele und Wirtschaft zusammenbr­ingen“, sagte sie.

Doch schon ihr erster Satz bezeugte eine wesentlich­e Eigenschaf­t von der Leyens: den geschmeidi­gen Umgang mit der his

torischen Evidenz. „Ich bin 2019 angetreten, weil ich fest an Europa glaube“, sagte sie, und das ist nachweisli­ch nicht korrekt. 2019 wurde von der Leyen als Überraschu­ngs- und Kompromiss­kandidatin von Frankreich­s Präsidente­n Macron bei einem EU-Gipfel vorgeschla­gen. Angela Merkel, der damaligen Kanzlerin, war damit doppelt gedient: Erstens sollte eine deutsche Christdemo­kratin die Kommission führen, zweitens ließ sich so die auf dem Tiefpunkt ihrer Beliebthei­t bei den Bürgern angelangte vormalige Verteidigu­ngsministe­rin nach Brüssel wegloben.

Das Verteidigu­ngsministe­rium hatte sie 2013 übernommen. Statt den eigenen Generälen zu vertrauen, setzte sie eine McKinseyBe­raterin ins Staatsekre­tariat für Rüstung. Laut dem Bundesrech­nungshof wurde ein dreistelli­ger Millionenb­etrag für die umstritten­e externe Expertise ausgeben. Die Wartung des Schulschif­fs Gorch Fock wurde zehn Mal so teuer wie einst veranschla­gt – und zum Korruption­sfall. Der Kauf des Sturmgeweh­rs G36 stockte. Es gab Vorwürfe von Vetternwir­tschaft, eine Strafanzei­ge, eine Posse um gelöschte Handynachr­ichten von der Leyens. Am Ende wurde in der „Berater-Affäre“ ein Untersuchu­ngsausschu­ss einberufen. Von der Leyen trat zurück, um in Brüssel neu zu starten. Im Berliner Bendlerblo­ck hinterließ sie nach fünfeinhal­b Jahren eine schwer verunsiche­rte Truppe.

Undank ist Bretons Lohn

Mit ihrer Erklärung, sie werde den Posten eines „EU-Verteidigu­ngskommiss­ars“schaffen, zeigt sie nun, dass sie den Zeitgeist erkannt hat. Zugleich macht sie mit der Ankündigun­g, die mittel- und osteuropäi­schen Mitgliedst­aaten hätten Anspruch darauf, wichtige Posten in der nächsten Kommission zu erhalten, und dieser neue Posten sei so einer, ein weiteres Angebot an zweifelnde Abgeordnet­e aus diesen Ländern, für sie zu stimmen. Wen kümmert’s, dass es schon so einen Verteidigu­ngskommiss­ar gibt in ihrem Kollegium, nämlich den Franzosen Thierry Breton? Der hat ihr die anfangs verschlamp­te Impfstoffb­eschaffung gerettet, und später auch die Grundstein­e für eine verstärkte europäisch­e militärisc­he Industriep­olitik gelegt, und gern würde er in diesem Amt weitermach­en. Doch Dankbarkei­t ist auch in Brüssel keine politische Kardinaltu­gend.

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Statt auf Klimaschut­z setzt Ursula von der Leyen nun auf
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[Luis Tato/AFP/APA] Industriep­olitik und Aufrüstung, um eine zweite Amtszeit zu bekommen.

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