Die Präsidentin hat noch nicht genug von Brüssel
Ursula von der Leyen kandidiert für ihre eigene Nachfolge. Ihr Leibthema Klimaschutz rückt sie wegen der nötigen politischen Allianzen in den Hintergrund.
Eines kann man Ursula von der Leyen nicht vorwerfen: mangelndes Gespür dafür, wann der politische Wind sich dreht. Noch im April 2022 bekundete sie in einem Interview mit dem belgischen Magazin „Wilfried“ihre feste Entschlossenheit, den Klimaschutz kraft ihres „Europäischen Grünen Deals“entschlossen voranzutreiben. „Selbst der Krieg, selbst die Pandemie sind Themen von geringerer Bedeutung, verglichen mit der Klima-Herausforderung“, sagte die Präsidentin der Europäischen Kommission.
Solche Worte hat man in den fast zwei Jahren seither kaum mehr von ihr gehört. Und die Präsidentin wird in ihrer nun lancierten Kampagne um ein zweites Mandat höchstens halbherzige Plädoyers für ihren EU-Green-Deal führen. Denn wie gesagt: Der Wind hat sich gedreht in Europa. Klimapolitik finden die Bürger als abstraktes Ziel wichtig, als konkrete finanzielle Last oder Auswirkung auf ihre Gewohnheiten beim Essen, Autofahren, Heizen jedoch als Zumutung. Die jüngsten Bauernproteste waren nur der plakative Schlusspunkt unter den Bemühungen der Kommission von der Leyen, dem Ziel der Dekarbonisierung Europas bis zum Jahr 2050 durch Reformen in allen gesellschaftlichen und ökonomischen Sektoren näherzukommen.
Haardünne Mehrheit im Juli 2019
Das Kalkül von der Leyens ist einfach: Sowohl im Europäischen Rat als auch im Europaparlament benötigt sie die Unterstützung jener, die nun auf Industriepolitik und militärische Wehrhaftigkeit im Angesicht der Aggression Moskaus setzen, und Klimaschutz als lästige Behinderung der unternehmerischen Freiheit sehen. Nach der Europawahl 2019 war das anders: Da befand sich die Klimaschutzbewegung dank der Fridays for Future im gesellschaftlichen Aufwind, und die Grünen spielten im Europaparlament das Zünglein an der Waage.
Knapp genug wurde es dann am 16. Juli 2019 bei der Abstimmung im Europaparlament noch immer. Nur neun Stimmen Mehrheit bekam von der Leyen. Und auf viele dieser Stimmen kann sie, falls die Staats- und Regierungschefs sie nominieren, was ziemlich sicher sein dürfte, nach der heurigen Europawahl nicht mehr setzen. Die Grünen müssen sich auf ein Debakel einstellen, die italienische Fünf-Sterne-Bewegung gibt es faktisch nicht mehr, die ungarische Regierungspartei Fidesz verunglimpft von der Leyen in Plakatkampagnen, und auch die nunmehr oppositionelle polnische PiS lehnt sie ab. Von der Leyen kann dafür darauf hoffen, dass die postfaschistischen Fratelli d’Italia von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni so gut abschneiden werden, wie es die Umfragen vermuten lassen, denn mit Meloni pflegt sie demonstrativ guten Umgang.
Mehr Industrie, weniger Klima
Montagmittag, Konrad-Adenauer-Haus, Berlin, der erste Auftritt von der Leyens als Bewerberin um eine zweite Amtszeit. Die Botschaft aus Brüssel sollte künftig Sicherheit und Wohlstand lauten, erst darauf aufbauend Klimaschutz, sagte Friedrich Merz, Chef der CDU, deren Bundesvorstand von der Leyen einstimmig vorschlug. Sie wolle „Klimaziele und Wirtschaft zusammenbringen“, sagte sie.
Doch schon ihr erster Satz bezeugte eine wesentliche Eigenschaft von der Leyens: den geschmeidigen Umgang mit der his
torischen Evidenz. „Ich bin 2019 angetreten, weil ich fest an Europa glaube“, sagte sie, und das ist nachweislich nicht korrekt. 2019 wurde von der Leyen als Überraschungs- und Kompromisskandidatin von Frankreichs Präsidenten Macron bei einem EU-Gipfel vorgeschlagen. Angela Merkel, der damaligen Kanzlerin, war damit doppelt gedient: Erstens sollte eine deutsche Christdemokratin die Kommission führen, zweitens ließ sich so die auf dem Tiefpunkt ihrer Beliebtheit bei den Bürgern angelangte vormalige Verteidigungsministerin nach Brüssel wegloben.
Das Verteidigungsministerium hatte sie 2013 übernommen. Statt den eigenen Generälen zu vertrauen, setzte sie eine McKinseyBeraterin ins Staatsekretariat für Rüstung. Laut dem Bundesrechnungshof wurde ein dreistelliger Millionenbetrag für die umstrittene externe Expertise ausgeben. Die Wartung des Schulschiffs Gorch Fock wurde zehn Mal so teuer wie einst veranschlagt – und zum Korruptionsfall. Der Kauf des Sturmgewehrs G36 stockte. Es gab Vorwürfe von Vetternwirtschaft, eine Strafanzeige, eine Posse um gelöschte Handynachrichten von der Leyens. Am Ende wurde in der „Berater-Affäre“ ein Untersuchungsausschuss einberufen. Von der Leyen trat zurück, um in Brüssel neu zu starten. Im Berliner Bendlerblock hinterließ sie nach fünfeinhalb Jahren eine schwer verunsicherte Truppe.
Undank ist Bretons Lohn
Mit ihrer Erklärung, sie werde den Posten eines „EU-Verteidigungskommissars“schaffen, zeigt sie nun, dass sie den Zeitgeist erkannt hat. Zugleich macht sie mit der Ankündigung, die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten hätten Anspruch darauf, wichtige Posten in der nächsten Kommission zu erhalten, und dieser neue Posten sei so einer, ein weiteres Angebot an zweifelnde Abgeordnete aus diesen Ländern, für sie zu stimmen. Wen kümmert’s, dass es schon so einen Verteidigungskommissar gibt in ihrem Kollegium, nämlich den Franzosen Thierry Breton? Der hat ihr die anfangs verschlampte Impfstoffbeschaffung gerettet, und später auch die Grundsteine für eine verstärkte europäische militärische Industriepolitik gelegt, und gern würde er in diesem Amt weitermachen. Doch Dankbarkeit ist auch in Brüssel keine politische Kardinaltugend.