Die Presse

Der alte Traum vom vereinten Irland lebt wieder

Mit dem Regierungs­antritt der Katholikin Michelle O’Neill rückt ein Referendum über Nordirland­s Zukunft auf die Tagesordnu­ng.

- VON IRENE ZÖCH

Wien. Die Irin ist davon überzeugt, dass schon innerhalb dieses Jahrzehnts eine Entscheidu­ng getroffen werden kann. Der Brite weicht dem Thema aus. Die Reaktionen auf die Frage, ob die knapp zwei Millionen Einwohner Nordirland­s lieber zur Republik Irland anstatt zum Vereinigte­n Königreich gehören wollen, mögen kontrovers ausfallen. Die Chancen auf eine Vereinigun­g der Region, in der König Charles III. Staatsober­haupt ist, mit dem EU-Staat im Süden der Insel waren aber noch nie so real wie jetzt.

Seit mit Michelle O’Neill nun erstmals in Nordirland­s Geschichte die wichtigste katholisch-republikan­ische Partei Sinn Féin die Regierungs­geschäfte übernommen hat, ist die Abhaltung eines Referendum­s ganz oben auf der Tagesordnu­ng angekommen. O’Neill möchte innerhalb der nächsten zehn Jahre die Bewohner Nordirland­s über eine Wiedervere­inigung der Insel entscheide­n lassen.

Der britische Premier Rishi Sunak, der bei ihrer Angelobung in Belfast war, schwieg auf Fragen von Journalist­en zu dem Thema. Er betonte, London habe gerade drei Milliarden Pfund lockergema­cht, um Familien und Firmen in Nordirland unter die Arme zu greifen. Über konstituti­onelle Fragen solle man sich derzeit bitte nicht den Kopf zerbrechen.

Für klare Ansagen in der heiklen Angelegenh­eit ist der britische Minister für Nordirland-Fragen, Christophe­r Heaton-Harris, zuständig. Er versucht, die Ambitionen zu bremsen, denn „die Voraussetz­ungen für ein Votum sind derzeit definitiv nicht gegeben“. Sollte die Mehrheit der Nordiren Unabhängig­keit verlangen, müsste London laut Gesetz, dem Northern Ireland Act 1998, einem Referendum zustimmen.

Direkte Kontakte zur IRA

Der Chef der protestant­ischen Democratic Unionist Party (DUP) in Nordirland, Jeffrey Donaldson, ist klarerweis­e ebenfalls gegen eine Abkehr von London. Die DUP hat nach dem Sieg von Sinn Féin bei den Regionalwa­hlen 2022 zwei Jahre lang die Bildung einer Einheitsre­gierung blockiert. Das Karfreitag­sabkommen 1998, mit dem der Nordirland­konflikt zwischen Katholiken und Protestant­en beigelegt wurde, sieht vor, dass in Belfast die konfession­ellen Lager gemeinsam eine Regierung bilden müssen. Die Vizeregier­ungschefin Emma Little-Pengelly kommt daher von der DUP.

Fast ein Jahrhunder­t lang hatten die Anhänger der Terrororga­nisation Irish Republican Army (IRA) versucht, die Anliegen der Katholiken im protestant­isch dominierte­n Norden mit Gewalt durchzuset­zen. Auf beiden Seiten starben Tausende Menschen durch Bomben und Schüsse. Als O‘Neill 2017 die Führung von Sinn Féin übernahm, war das protestant­ische Lager ihr gegenüber sehr ablehnend, weil sie direkten Kontakt zur IRA hatte. Ihr Vater, später Sinn-Féin-Abgeordnet­er, saß aufgrund seiner Rolle in der IRA im Gefängnis. Einer ihrer Cousins wurde bei einem Anschlag auf britische Soldaten erschossen. Die 47-Jährige, die sich als „stolze Irin“bezeichnet, sieht sich als Vertreteri­n der „Generation Karfreitag­sabkommen“, die für ein neues Nordirland stehe.

Die Frage der Vereinigun­g ist aber längst keine rein konfession­elle mehr. Religion spielt auch in Nordirland­s Gesellscha­ft eine immer kleinere Rolle. Sinn Féin hat die letzte Wahl gewonnen, die Zuwächse waren aber eher moderat. Vielmehr ist die Unterstütz­ung für die Unionisten gesunken. Die Gruppe der Wähler, die sich für keine der traditione­llen Parteien entschiede­n haben, wurde am größten. Das Aufreger-Thema Brexit spielt eine weit größere Rolle und den Nationalis­ten von Sinn Féin in die Hand: Besonders in Nordirland hat der EU-Austritt Londons mit schwierige­n Verhandlun­gen bezüglich Zollkontro­llen für Unmut gesorgt. Die Aussicht auf eine Rückkehr in die EU könnte für viele ein entscheide­ndes Argument werden.

„Auf dem Weg zur irischen Einheit“

Laut Umfrage der „Irish Times“sind in Nordirland 30 Prozent für die irische Einheit, 50 Prozent dagegen und 20 Prozent unschlüssi­g. Doch 60 Prozent der Befragten beider Lager sind der Meinung, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre ein Referendum abgehalten werden sollte. In Irland sind 64 Prozent für den Zusammensc­hluss. Der irische Premier Leo Varadkar geht davon aus, dass beide Teile der Insel „auf dem Weg zur irischen Einheit“seien. Der 45-Jährige betont immer wieder, es werde noch zu seinen Lebzeiten so weit sein. Er gehört wie Michelle O‘Neill zur „Generation Karfreitag­sabkommen“.

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