Die letzte Bastion steht vor dem Fall
Das Ende der Titelserie von Bayern München rückt näher und näher. Was für die einen ein „Horrorfilm“ist, verspricht für die anderen eine sehnlich herbeigesehnte Abwechslung.
Die vom Urmünchner Thomas Müller so titulierte „Woche zum Vergessen“bringt selbst einen wahren Giganten ins Taumeln – und zum Grübeln. Der FC Bayern hat nach der 2:3-Niederlage in Bochum am Sonntag schon acht Punkte Rückstand auf Tabellenführer Bayer Leverkusen. Noch zwölf Runden sind in der Bundesliga zu spielen, die Hoffnung der Münchner, eine eindrucksvolle Serie aufrechterhalten zu können, schwindet.
„Wir werden jetzt den Teufel tun, die Flinte ins Korn zu werfen“, hatte Trainer Thomas Tuchel nach dem 0:3 gegen Leverkusen acht Tage zuvor in Bezug auf den angestrebten zwölften Meistertitel in Folge gesagt. „Jetzt gerade ist es nicht sehr realistisch“, lautet seine Analyse nun. Zwischen den beiden Partien war da ja auch noch eine 0:1-Niederlage gegen Lazio in der Champions League zu verdauen. Die letzte Bastion der europäischen Topligen steht wohl vor dem Fall.
Offener Schlagabtausch
In Deutschland galten die Bayern seit der Saison 2012/13, in der sie ihre zwischenzeitlich an Borussia Dortmund verlorene Vormachtstellung zurückeroberten, zumeist als unantastbar. Während der im Vorjahr erst am letzten Spieltag fixierte Titelgewinn dank Schützenhilfe immerhin als Vorbote für die sich anbahnende Wachablöse gedeutet werden kann, waren andere Topligen in den vergangenen Jahren deutlich abwechslungsreicher.
England sah in den jüngsten elf Spielzeiten fünf verschiedene Meister. Dass sich Manchester City in ein paar Monaten zum vierten Mal in Folge die Premier-LeagueKrone aufsetzen wird, ist nach einem 1:1 gegen Chelsea fraglich. Den „Skyblues“fehlen vier Punkte auf Liverpool, sie haben ein Spiel weniger absolviert als der Leader.
In Italien bahnt sich die bereits vierte Wachablöse an der Spitze in Serie ab. Inter Mailand hatte 2020/ 21 die zuvor neun Jahre anhaltende Dominanz von Juventus gebrochen, seither nahmen auch der AC Milan (2021/22) und auch Napoli (2022/23) am Fußballthron Platz. Aktuell führt wieder Inter die Tabelle an – mit neun Punkten Vorsprung auf Juventus, das zudem bereits ein Spiel mehr absolviert hat.
Spanien hat es Atletico Madrid zu verdanken, dass das seit Urzeiten dominierende Titelduell zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona in der jüngeren Vergangenheit mehr und mehr zu einem Dreikampf wurde. Als zusätzliche Fixgröße hatte das seit 2011 von Diego Simeone trainierte Team 2013/14 und 2020/21 das bessere Meisterschaftsende für sich. In der aktuellen Saison scheint wieder der Stadtrivale am Zug zu sein. Real führt La Liga vor der Sensationsmannschaft Girona an.
Selbst in Frankreich, wo die Ligue 1 seit der Übernahme von Paris SG durch eine katarische Investorengruppe zur One-Team-Show wurde, gab es in Sachen Meistermannschaften mehr Abwechslung als in Deutschland. Die seit 2012/13 laufende Titelserie von Paris wurde 2016/17 durch AS Monaco und 2020/21 durch OSC Lille unterbrochen.
Comans Premiere
Apropos Paris: Bei jenem Klub hat die Profikarriere von Kingsley Coman ihren Anfang genommen. Eine Karriere, in der der inzwischen 27-Jährige in jedem Jahr über einen Meistertitel jubeln durfte. In seiner Premierensaison 2012/13 holte er diesen ebenso wie in der darauffolgenden. Auch nach Wechseln zu Juventus (Meister 2014/15, 2015/16) sowie zum FC Bayern änderte sich nichts am Erfolg des seit Ende Jänner wegen einer Knieverletzung außer Gefecht gesetzten Franzosen.
Der Frust nach den jüngsten Niederlagen ist bei Comans Teamkollegen jedenfalls groß und soll sich in Bochum auch in einem verbalen Streit zwischen dem nach gut einer Stunde ausgewechselten Joshua Kimmich und Co-Trainer Zsolt Löw entladen haben. „Es fühlt sich an wie ein Horrorfilm, der nicht aufhört“, resümierte Mittelfeldspieler Leon Goretzka. Selbstkritisch fügte er an: „Es sind am Ende des Tages individuelle Fehler, die wir machen – und davon zu viele. Im Moment müssen wir, glaube ich, alles hinterfragen.“
Symptomatisch dafür ist Verteidiger Dayot Upamecano, der eine besonders fürchterliche Woche hinter sich hat: zwei Spiele, zwei Platzverweise, zweimal den entscheidenden Elfmeter verursacht. „Er macht sich damit seine eigenen Leistungen kaputt“, sagte Tuchel. Der Coach und sein Team hadern, jeder Nicht-Bayern-Fan jubelt wohl über die Aussicht auf ein wenig Abwechslung. Eine Abwechslung, die wohl auch Österreichs Bundesliga vertragen könnte. Salzburg marschiert aktuell in Richtung des elften Meistertitels in Serie.
Im Moment müssen wir, glaube ich, alles hinterfragen.
Leon Goretzka FC Bayern-Profi