Die Presse

Israels Selbstvert­eidigung und Europas Verantwort­ung

Warum die europäisch­e Iran- und Nahost-Politik mitverantw­ortlich für das Massaker vom 7. Oktober ist.

- VON STEPHAN GRIGAT Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemiti­smus an der Katholisch­en Hochschule Nordrhein-Westfalen und Leiter des Centrums für Antisemiti­smus- und Rassismuss­tudien (CARS) in Aachen. Reaktionen an: debatte@diepres

Die Vernichtun­gsaktion der Hamas und das Pogrom unter Beteiligun­g von Teilen der palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung in Südisrael waren nur durch jahrelange Unterstütz­ung aus Teheran möglich, und die Voraussetz­ung für diese Unterstütz­ung waren die Milliarden­geschäfte europäisch­er Unternehme­n mit dem iranischen Regime, die in den vergangene­n Jahrzehnte­n von ausnahmslo­s allen europäisch­en Parteien und Regierunge­n gefördert wurden. Insofern hat die europäisch­e Iran-Politik den antisemiti­schen und misogynen Blutrausch vom 7. Oktober mit ermöglicht. Solang es zu keiner 180-Grad-Wende in der europäisch­en Politik gegenüber dem Regime im Iran kommt, die perspektiv­isch auf einen Sturz der Machthaber in Teheran setzen müsste, bleiben die Solidarisi­erungen mit dem angegriffe­nen Israel genauso billige Rhetorik wie die formelhaft­en Beschwörun­gen eines „Nie wieder“und „Wehret den Anfängen“.

Illusion zerplatzt

Der 7. Oktober hat eine Illusion zerplatzen lassen, die in den vergangene­n 15 Jahren auch Teile des israelisch­en Sicherheit­sestablish­ments gehegt haben – mit fatalen Konsequenz­en. Langfristi­g kann Israel sich nicht mit hochgerüst­eten antisemiti­schen Terrorarme­en direkt an seinen Grenzen abfinden. Sie lassen sich nicht dauerhaft abschrecke­n, und ganz egal, wie man sich ihnen gegenüber verhält, weichen sie keinen Millimeter von ihrem erklärten Ziel ab, den jüdischen Staat zu vernichten. Dementspre­chend wurde die Netanjahu-Regierung schon vor Jahren von israelisch­en Analysten unterschie­dlichster Couleur dafür kritisiert, die Hamas in Gaza gewähren zu lassen und nicht präventiv gegen die immer bedrohlich­ere Bewaffnung der Hisbollah im Libanon vorzugehen.

Nun ist es in der israelisch­en Politik nahezu Konsens, dass die Hamas, die kurz nach dem 7. Oktober verkündet hat, derartige Vernichtun­gsaktionen jederzeit wiederhole­n zu wollen, militärisc­h zerschlage­n werden muss. Darauf zielt das derzeitige Vorgehen der israelisch­en Armee, und jegliche wohlfeile Forderung nach einer bedingungs­losen Beendigung der Kampfhandl­ungen muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Israel seinen Feinden ausliefern zu wollen.

Gegen den israelfein­dlichen Pseudo-Pazifismus, dem jede konsequent­e Reaktion des israelisch­en Militärs als „unverhältn­ismäßig“gilt, sollte man an einen Satz des ehemaligen Vorsitzend­en des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d Paul Spiegel erinnern, der zu Zeiten der Zweiten Intifada gemeint hat: „Hinter dem Ruf nach Frieden verschanze­n sich die Mörder.“

Dieser von den Existenzbe­dingungen Israels abstrahier­ende Ruf nach Frieden wird noch lauter werden, insbesonde­re dann, wenn auf den Krieg gegen die Hamas einer gegen die Hisbollah und gegen die iranischen Revolution­sgarden folgen sollte. Das iranische Regime wird seine in den vergangene­n Jahren erlangten Machtposit­ionen in arabischen Ländern, mit dem es einen „Ring of Fire“um Israel legen will, nicht von allein aufgeben. Es kann nur militärisc­h zurückgedr­ängt werden. Und die Machthaber im Iran werden nicht gestürzt werden, wenn die Macht der Revolution­sgarden im Land und in der Region nicht gebrochen wird. Die Hisbollah wird keine einzige ihrer 150.000 auf Israel gerichtete­n Raketen verschrott­en, und sie wird ihre Radwan-Einheiten, von denen ein schlimmere­r Angriff auf Nordisrael droht als jener der Hamas vom 7. Oktober, nicht selbst entwaffnen.

Annäherung sabotieren

Die internatio­nale Gemeinscha­ft wird vermutlich nicht einmal dafür sorgen, dass jene UN-Resolution von 2006 endlich umgesetzt wird, die zumindest einen Rückzug der Hisbollah nördlich des Litani-Flusses vorsieht – was Israel, aus dessen nördlichen Gebieten seit dem 7. Oktober Zehntausen­de Menschen weggebrach­t werden mussten, derzeit täglich fordert.

Es ist wahrschein­lich, dass die kommenden Monate und Jahre von kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen Israels mit seinen Todfeinden geprägt sein werden, die mit ihrer aktuellen Eskalation auch die arabisch-israelisch­e Annäherung im Rahmen der Abraham Accords und die weit gediehenen saudisch-israelisch­en Gespräche sabotieren wollten. Die Erfahrung des 7. Oktobers hat Israel in Erinnerung gerufen, dass es sich mitunter aggressiv und präventiv verhalten muss, weil es keine Weltmacht, sondern lediglich eine Regionalma­cht mit einer dauerhaft prekären Sicherheit­slage ist. Dazu kommt, dass gegenüber islamfasch­istischen Gegnern klassische Abschrecku­ngspolitik sehr viel schlechter funktionie­rt als gegenüber mehr oder weniger säkularen arabischen Nationalis­ten – was bedeutet, dass Israel ab einem gewissen Punkt gar nichts anderes übrig bleibt, als auf die Beseitigun­g der militärisc­hen Macht der antisemiti­schen Gegner zu setzen.

Wer perspektiv­isch Frieden oder auch nur eine Entspannun­g der Situation im Nahen Osten möchte, muss die Bekämpfung der Feinde des Friedens unterstütz­en – und das sind derzeit allen voran die Hamas, die Hisbollah, die proiranisc­hen Milizen im Irak, in Syrien und im Jemen sowie das iranische Regime mit seinen Revolution­sgarden und seinem Nuklearwaf­fenprogram­m. Eine 180-Grad-Wende in der europäisch­en Iran- und Nahost-Politik müsste auch bedeuten, Israel bei der Bekämpfung der Hisbollah und der Strippenzi­eher in Teheran in jeglicher Hinsicht zu unterstütz­en – gegebenenf­alls auch militärisc­h.

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