Die Presse

„Dann ändert sich alles“: Wie die Ukraine Männer für die Front finden will

Neues Gesetz soll Ausnahmen verringern und droht mit Strafen. Das Thema birgt Konfliktst­off.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Sascha hat sich eine fatalistis­che Haltung zugelegt. „Es ist eine Lotterie“, sagt er. „Was passieren wird, wird passieren.“Der 44-Jährige in der ockerfarbe­nen Kapuzenjac­ke schaut aus dem Fenster. Draußen liegt das geschäftig­e Zentrum der ukrainisch­en Hauptstadt. Autos, Cafés, Geschäfte. Sascha, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, ist in Kiew in einem Unternehme­n für die Personalen­twicklung zuständig. Während er Weiterbild­ungskurse für die Mitarbeite­r organisier­t, wartet er auf seine Einberufun­g – und hofft, dass sie nicht kommt. Die Sache beunruhige ihn, sagt er. Die Mobilisier­ung liege wie eine Drohung über seinem Leben. „Wenn du eingezogen wirst, ändert sich alles“, sinniert er. „Dein Leben teilt sich in ein Davor und Danach.“

Saschas Gedanken dürften vielen ukrainisch­en Männern bekannt sein: Die Ukraine soll gegen Russland siegen, aber kämpfen sollen andere. Doch an der Front werden nach zwei Jahren Krieg dringend neue Soldaten benötigt.

Medial im Fokus stehen oft spektakulä­re Fälle: Männer, die nicht mehr vors Haus gehen, Schmiergel­d bezahlen oder ins Ausland abhauen. Solche Beispiele gibt es natürlich. Doch weit größer ist die Gruppe jener, die so wie Sascha schicksals­ergeben wartet.

Weniger Ausnahmen, mehr Strafen

Die Ukraine stellt gerade die Weichen, um die Rekrutieru­ng neuer Männer zu erleichter­n. Schon Anfang Februar bestätigte das Parlament in erster Lesung einen Gesetzesvo­rschlag, der vielfältig­e Änderungen im Mobilisier­ungsgesetz vorsah. Bis Ende Februar dürfte das Gesetz fertig sein. Die Reform sieht die Senkung des Einzugsalt­ers von 27 auf 25 Jahre vor. Die Möglichkei­ten für einen Aufschub werden reduziert. Vorbestraf­te Personen sollen sich zum Kriegsdien­st melden können. Laut Justizmini­sterium könnte dieser Pool rund 50.000 Personen ausmachen. Es wäre eine Light-Version der russischen Anwerbung von Strafgefan­genen. Weiters ist die elektronis­che Zustellung des Einberufun­gsbescheid­s sowie die Erhöhung von Strafen bei Nichtersch­einen im Rekrutieru­ngszentrum vorgesehen. Rotation soll nach 36 Monaten möglich sein.

Immer wieder ist von bis zu 500.000 Männern die Rede, die neu mobilisier­t werden sollen. Doch offiziell ist diese Zahl noch nicht. Wie viele Personen durch die Änderungen eingezogen werden könnten, darauf will sich Jehor Tschernew, Abgeordnet­er von Wolodymyr Selenskijs Partei „Diener des Volkes“und Vizevorsit­zender des parlamenta­rischen Verteidigu­ngskomitee­s gegenüber der „Presse“nicht festlegen. „Das neue Gesetz soll motivierte­re Menschen in die Reihen der Streitkräf­te bringen und Spannungen in der Gesellscha­ft abbauen“, sagt Tschernew.

Das Thema ist sensibel und birgt Konfliktpo­tenzial. Präsident Selenskij vermeidet Aussagen dazu. Die Mobilisier­ung berührt die Frage, wie weit die Gesellscha­ft auf Kriegsfüße gestellt werden muss. Wie ist die Kriegslast gerecht verteilt? Wie groß ist die Opferberei­tschaft jedes einzelnen?

Nach zwei Jahren Krieg macht sich in der Gesellscha­ft Müdigkeit breit. Während unter dem Eindruck des Überraschu­ngsangriff­s viele Ukrainer auf eigenen Wunsch einrückten, ist die Zahl der freiwillig­en Meldungen gesunken. Da helfen auch die Anwerbepos­ter im ganzen Land nicht, die an den Heldenmut der Ukrainer appelliere­n. Vor dem Land liegt ein langer Abnutzungs­krieg, der viele Opfer fordern wird. „Damals wollten alle dienen“, erinnert sich Sascha. „Jetzt ist der Krieg zur Routine geworden.“Jeder hat Bekannte, die an der Front sind. Was sie zu erzählen haben, hört sich meist wenig erbaulich an. „Wenn du einmal im System bist, kommst du nicht mehr raus“, sagt Sascha.

‘‘ Die Betroffene­n müssen sicher sein, dass sie eine angemessen­e Ausbildung erhalten.

Jehor Tschernew Parlaments­abgeordnet­er

„Besser später als früher“

Abgeordnet­er Tschernew will die Armee attraktiv für verschiede­ne Berufsgrup­pen machen. Er will den Männern die Angst vor dem Heer nehmen. „Die Betroffene­n müssen sicher sein, dass sie eine angemessen­e Ausbildung erhalten, ihre Kommandeur­e ihr Leben schützen und die Vergütung und die sozialen Garantien angemessen sind.“

Für Sascha ist das dennoch kein Antrieb. „Wenn der Krieg noch lange weitergeht, dann kommen sowieso alle dran“, sagt er. „Also besser später als früher.“Sascha lacht auf. Fröhlich klingt es nicht. „Natürlich habe ich Schuldgefü­hle. Aber bis jetzt komme ich damit klar.“

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