Die Tragödie von Rafah: „Immer wenn bombardiert wird, schreien die Kinder“
1,4 Millionen Menschen sind an die Grenze zu Ägypten geflohen. Was werden sie tun, wenn Israel auch hierher vorrückt?
Kairo/Rafah. Man kann sie kaum als Zelte bezeichnen. Es sind eher improvisierte Verschläge mit Plastikplanen, die die Menschen am Rande der Stadt Rafah zu Hunderten aufgebaut haben – in dieser letzten Sackgasse des Gaza-Krieges. Mehr Süden gibt es nicht, in den sie fliehen können. Vor ihnen operiert die israelische Armee in Khan Yunis auf der Suche nach den Verstecken der Hamas, hinter ihnen liegt Ägyptens Grenzwall.
1,4 Millionen Menschen warten hier auf Israels angekündigte Bodenoffensive. Sollte der Vormarsch beginnen, haben sie zwei Möglichkeiten: Entweder brechen sie über die ägyptische Grenze aus – damit, fürchten aber viele von ihnen, laufen sie Gefahr, für immer aus dem Gazastreifen vertrieben zu werden. Oder sie fliehen nach Norden. Doch selbst wenn Israels Armee sie durchlassen würde, stünden sie vor den Ruinen ihrer Häuser. Wo werden sie hingehen, wenn die Israelis kommen? Das ist die brennendste Frage, die die Menschen hier beschäftigt.
„Sie müssen Lösung finden“
„Wir bleiben hier, wohin sonst können wir fliehen“, sagt die 17jährige Bissam Salem. „Sie müssen einfach eine Lösung für dieses Desaster finden, in dem wir leben. Seht ihr, wie die Menschen hier vor unseren Augen bombardiert werden. Und niemand nimmt das zur Kenntnis.“Ein lokaler Kameramann hat die Aussagen von Bissam Salem und anderen Menschen in Rafah dokumentiert und der „Presse“zu Verfügung gestellt.
Auch Omar Mosluih ist einer von ihnen. Er kommt aus Maghazi im Zentrum des Gazastreifens. Vor 25 Tagen ist der 50-Jährige hierher nach Rafah geflohen. „Jetzt sind wir hier, ohne Haus, ohne Kleidung zum Wechseln, mit kaum Essen. Wenn die Israelis kommen, werden wir versuchen, nach Ägypten zu fliehen oder zurück in den Norden zu gehen“, schildert er. „Ich möchte der Welt sagen, schämt euch. Ihr schweigt, während diese Verbrechen begangen werden, nicht nur gegen uns als Palästinenser, sondern einfach gegen uns als Menschen.“
Viele hier haben gleich zwei, drei oder mehr Fluchtstationen hinter sich, wie etwa die GhramriFamilie. Ihre Matratzen haben sie auf dem Autodach festgezurrt, um jederzeit wieder fliehen zu können. Über ein Solarpanel, das neben ihrem Verschlag lehnt, erhalten sie genug Energie, um zumindest Licht zu haben und ihre Handys aufladen zu können.
Umm Nihad Abu El-Qombouz, die Mutter von fünf Kindern blickt auf die Odyssee zurück, die die Familie, die aus Gaza-Stadt stammt, hinter sich hat. „Wir sind immer geflohen, wenn die Israelis uns dazu aufgefordert haben“. Zunächst ging es über den sogenannten sicheren Korridor in den mittleren Teil des Gazastreifens. „Dann zwangen sie uns noch weiter südlich nach Khan Yunis zu flüchten. Und jetzt sind wir hier, an einem Ort, der auch nicht sicher ist.“Ihr Mann Muhammad ElGharmi erzählt von der Ankunft in Rafah: „Nächsten Tag starb mein Vater durch die Kälte. Wir haben ihn hier begraben.“Sie haben nichts mehr von ihrem altem Leben, zu dem sie zurückkehren können. „Selbst wenn wir irgendwann wieder nach Gaza-Stadt zurückkommen, unser Haus dort ist zerstört. Dort gibt es nichts mehr für uns“, sagt er verbittert.
„Es gibt nur Angst“
Vor allem nachts fliegt Israel Luftangriffe, auch nahe der Verschläge. Erst am Sonntag starb dort eine sechsköpfige Familie. „Immer wenn bombardiert wird, schreien die Kinder. Wir schmiegen uns dann alle aneinander. Wir alle wissen, diese Verschläge bieten uns keinen Schutz. Nur Gott kann uns schützen“, klagt Umm Nihad. Als sie gefragt wird, wohin sie fliehen wird, wenn Israels Armee kommt, hält sie inne. Dann kommen Tränen, es verschlägt ihr die Stimme. Minuten später, als sie sich wieder beruhigt hat, sagt sie: „In diesem Krieg gibt es keine Gnade. Nur Angst und Herzen voller Traurigkeit von gebrochenen Menschen.“