Spitäler überlaufen? „Es stimmt nicht“
Gesundheitsexperte Wilhelm Marhold über enorme Wartezeiten in Spitälern und innovative Lösungen.
Es ist ein Satz, den Gesundheitspolitiker wie ein Mantra wiederholen: Die Ambulanzen der österreichischen Spitäler werden überlaufen – von Patienten, die keine Spitalsbetreuung brauchen, sondern in den niedergelassenen Bereich gehören. Mit der Folge, dass der Ruf nach der Wiedereinführung von Ambulanzgebühren regelmäßig laut wird, um Patienten zu zwingen, nicht wegen jeder Kleinigkeit in ein Spital zu gehen und die Ambulanzen zu verstopfen – was sich dort in enormen Wartezeiten niederschlägt. In dieser Diskussion lässt Wilhelm Marhold aufhorchen: „Es stimmt nicht, dass die Spitäler in den letzten Jahren überlaufen werden“, erklärt der Experte der gemeinnützigen Vereinigung Praevenire (einer Plattform zur Verbesserung des heimischen Gesundheitssystems.
Falsche Schlussfolgerungen
Marhold, der Spitalsexperte ist und als Generaldirektor die Wiener Spitäler geleitet hatte, legt dazu Zahlen auf den Tisch: „Von 2012 bis 2021 gab es einen marginalen Anstieg der Ambulanzfrequenz, wie die Daten des Gesundheitsministeriums zeigen. Die Patientenzahlen sind in diesem Zeitraum von 17,1 Millionen marginal auf 17,3 Millionen gestiegen.“Woher kommt die weitverbreitete Ansicht, dass die Ambulanzen
immer stärker von Patienten gestürmt werden? „Es gibt Dinge in der gesundheitspolitischen Landschaft, die sind einmal gesagt worden, und jeder wiederholt das unreflektiert“, meint Marhold.
EU-Richtlinie schlägt durch
Das Patientenaufkommen blieb gleich, die Kosten der ambulanten Leistungen stiegen im selben Zeitraum allerdings um 105 Prozent. Das sehe die Politik, so Marhold. Anders formuliert: Die
Politik sehe die Kostensteigerung und interpretiert das fälschlicherweise so, dass Ambulanzen überrannt werden. Dabei ist die Kostensteigerung auf die Tatsache zurückzuführen, dass Spitäler immer mehr ambulante Leistungen erbringen, die früher tagesklinisch oder stationär erbracht wurden.
Die massiven Wartezeiten in den Ambulanzen, die deutlich länger sind als vor einigen Jahren, sind aber auch ein Faktum. Gleich viele Patienten, aber deutlich längere Wartezeiten als früher: Wie erklärt sich dieser Widerspruch? „Dieses Problem ist dem Personalmangel in ganz Österreich geschuldet“, erklärt der Spitalsexperte, der zu den (ebenfalls) exorbitant langen Wartezeiten auch bei Operationen meint: „Hier ist es in hohem Maße der Personalmangel in der Pflege, aber auch in nicht so geringem Maße im ärztlichen Bereich.“Der Ärztemangel bei den Spitälern sei entstanden, weil man sich österreichweit bei der Auswirkung der EU-Richtlinie zur Ärzte-Arbeitszeit verschätzt hatte, die vor ein paar Jahren umgesetzt worden war, erklärt Marhold. Die EU-Regelung führte zu einer massiven Reduktion der Arbeitszeit von Spitalsärzten. Es wurden zwar Dienstposten aufgestockt, allerdings hatte man in Österreich den Bedarf unterschätzt: „Zusätzlich hat man völlig unterschätzt, dass die nachkommende Generation eine völlig andere Einstellung zu ihrer Work-Life-Balance hat.“Diese Generation würde (im Vergleich mit der vorangegangenen) Stunden reduzieren, um mehr Lebensqualität zu erreichen.
Marhold: „Wenn sich jemand von einer Vollzeitbeschäftigung auf 30 Stunden ohne Nachtdienste reduzieren lässt, müssen diese mindestens vier Nachtdienste andere Ärzte machen.“
Der Effekt: Sind vor allem Fachärzte aufgrund von Personalmangel nicht da, leidet das OP-Programm. Denn nach einem Nachtdienst darf ein Arzt laut EU-Arbeitszeitgesetz nicht mehr im OP-Saal stehen. So kommt es zu langen Wartezeiten auf Operationen. Ein weiteres gravierendes Problem: „Uns fehlen zusätzlich zahlreiche OP-Schwestern, ohne die man nicht operieren kann“, meint Marhold, der als vorübergehende Notlösung vorschlägt: „Es muss nicht immer eine OPSchwester sein, die dem Operateur
Es stimmt nicht, dass die Ambulanzen von Patienten überrannt werden. Es ist der österreichweite Personalmangel.
Wilhelm Marhold
die chirurgischen Instrumente reicht. Das könnten auch Ärzte in Ausbildung machen. Dafür gibt es bereits Beispiele.“Die Ärzte in Ausbildung würden viel mehr Praxis bekommen, das OP-Programm wie geplant durchgeführt werden. Das sei eine Win-win-Situation.
„Bürokratie abbauen“
Gleichzeitig fordert Marhold eine Entlastung der Ärzte von der Bürokratie, was auch die Wartezeiten in Ambulanzen verringern würde: „Warum ein Arzt oder eine Ärztin nach der Untersuchung alles selbst in einen Computer tippen muss, verstehe ich nicht. In dieser Zeit könnte man zwei weitere Patienten untersuchen.“Der Vorschlag des Praevenire-Experten: Einführung von medizinischen Schreibkräften bzw. medizinisch-administrativem Personal, die die Spitäler
selbst (auf aufgestockten Lehrlingsstellen) ausbilden. Dieses Personal könnte den Befund während der Untersuchung durch den Arzt gleich mitschreiben. Dadurch werde medizinisches Personal für die Patienten freigespielt, meint der Experte und bringt gleich ein Beispiel: „Die unfallchirurgischen Ambulanzen der AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Anm.) laufen so. Dort gibt es kaum Wartezeiten.“Nachsatz: „Ich verstehe nicht, warum das nicht in ganz Österreich umgesetzt wird.“
Der Praevenire-Experte bringt aber noch einen Vorschlag, um die Personalsituation unter Kontrolle zu bringen: ein massiver Ausbau von Tages- und Wochenkliniken in den Spitälern. Durch den medizinischen Fortschritt sei es in vielen Bereichen nicht mehr notwendig, dass Patienten nach einer Operation auf einer Station übernachten. Wenn man den tagesklinischen und wochenklinischen Bereich massiv ausbaue, benötige man auf vielen Stationen keinen ärztlichen Nachtdienst mehr, weil die Patienten am Abend nach Hause gehen. Durch diese Maßnahme würden tagsüber viel mehr Ärzte zur Verfügung stehen.
Positiv vermerkt Marhold die Anhebung der Gehälter und Nebengebühren für Ärzte und Pflege in einigen Bundesländern, vor allem in der Steiermark und im Burgenland, aber auch Wien steche insofern positiv hervor, als dort die Zulagen für die medizinischen Berufsgruppen massiv erhöht worden seien.
Ein noch größeres Problem gibt es in der Pflege. „Hier hat die Pandemie fürchterlich gewütet“, erklärt Praevenire-Experte Marhold: „Viele sind aus diesem Beruf gegangen, viele haben Stunden reduziert, oft mit der Begründung: Ich kann nicht mehr.“Heute Pflegenachwuchs zu lukrieren sei schwierig. Ständig sei geschrieben worden, wie schwer und wie furchtbar dieser Beruf sei, kritisiert der Spitalsexperte: „Dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass junge Menschen nicht gern in diesen Beruf gehen.“
Lösung für Pflegekräftemangel
Diese Situation wirkt sich verheerend aus. Denn bis zum Jahr 2050 besteht in Österreich der Bedarf an knapp 200.000 Pflege- und Betreuungspersonen. Zu diesem Ergebnis ist nun die Pflegepersonalbedarfsprognose der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) gekommen. Jährlich klafft eine Lücke von 3000 Pflegekräften.
Wie kann man gegensteuern, damit junge Menschen wieder gern den Pflegeberuf ergreifen? Das Gesundheitsministerium müsse eine breite Imagekampagne starten, „was dieser Beruf alles hergibt“, erklärt Marhold. Denn seit der Pandemie wurden nur negative Bilder gezeichnet. Nämlich man bekomme bei der Pflege von Menschen nichts zurück und verbrenne durch die schwere Arbeit : „Man muss aber endlich zeigen, was dieser Beruf wirklich bedeutet.“Beispielsweise was die Wärme und Zuwendung bedeuteten, mit denen eine junge Schwester ein Frühgeborenes betreue: „Man muss zeigen, wie viel man dafür auch zurückbekommt. Der Beruf ist von der Empathie, Zuwendung und auch vom Erfolg mit kaum einem anderen Beruf zu vergleichen. Aber das sagen wir den jungen Menschen nicht“, hält der Experte fest.
„Ein wunderschöner Beruf“
Wie kann man junge Menschen (neben einer Imagekampagne) für den Pflegeberuf begeistern? Jugendliche mit ihren Handys, die de facto ein Computer sind, seien enorm technikaffin, meint Marhold: „Diese Technikaffinität müssen wir nutzen.“Denn der Beruf als Pflegefachkraft sei auch in vielen Spezialbereichen sehr medizintechnisch, mit modernster, faszinierender Technik, die Pflegekräften helfen würden. Marhold: „Das müssen wir den jungen Menschen auch sagen, dann werden sich wieder mehr für diesen wunderschönen Beruf interessieren.“