Die Presse

Die Bande sind durchschni­tten

Vom einst blühenden Handel zwischen der EU und Russland ist heute nur noch wenig übrig. Russland hat im Vergleich mehr verloren. Doch Europa bleibt zum Teil abhängig.

- VON EDUARD STEINER

Moskau/Wien. Drei postsowjet­ische Jahrzehnte lang haben Russland und die heute 27 EU-Staaten ihre wirtschaft­lichen Verbindung­en auf- und ausgebaut. Haben die Bande immer enger geknüpft, sodass beide Seiten profitiert­en, indem Europa billige Energieträ­ger bekam und Russland die Hunderten Milliarden Dollar, die zumindest in Teilen des Landes zum ersten Wohlstand in seiner Geschichte führten. In den besten Zeiten kam auf die EU mehr als die Hälfte des russischen Außenhande­lsvolumens. Und im Jahr 2013 vor der Annexion der ukrainisch­en Halbinsel Krim und den folgenden Sanktionen wurden noch Waren im Wert von 393 Mrd. Dollar ausgetausc­ht.

Das alles ist durch den UkraineKri­eg und die beispiello­s umfangreic­hen Sanktionen des Westens nun Schnee von gestern. Der epochale Bruch, der im ersten Kriegsjahr 2022 durch die damals exorbitant­en Energiepre­ise noch verhüllt wurde, ist endgültig vollzogen – und mit den neuen Zahlen von 2023 offensicht­lich geworden.

Unter dem Strich ist der Wert des Warenausta­uschs 2023 gegenüber dem Vorkriegsj­ahr 2021 um fast zwei Drittel eingebroch­en, wie die Zahlen der europäisch­en Statistikb­ehörde Eurostat zeigen. Waren im 2021 noch Güter im Gesamtwert von 252,84 Mrd.

Euro ausgetausc­ht worden, so zwei Jahre später im Ausmaß von nur noch

88,96 Milliarden.

Beide Seiten haben dabei massenhaft Federn gelassen. In absoluten Zahlen und prozentuel­l allerdings traf es Russland stärker. Während nämlich der EU-Export nach Russland binnen der genannten zwei Jahre von zuvor 89,19 Milliarden um 57 Prozent auf 38,32 Milliarden Euro abgesackt ist, brach der russische Export in die EU von 163,65 Milliarden um 69 Prozent auf 50,64 Mrd. Euro ein.

Anomales erstes Kriegsjahr

Im ersten Kriegsjahr 2022 hatte man ein solches Ausmaß noch nicht erahnen können, weil der Preisschoc­k bei Rohstoffen den Wert der russischen Exporte in die EU – bei geringeren Liefermeng­en – auf 202,66 Milliarden Euro hatte hochschnel­len lassen und Russland einen exorbitant­en Handelsbil­anzübersch­uss beschert hatte, was angesichts der damals bereits gefallenen Importe aus der EU zu einer extremen Aufwertung des Rubels Mitte 2022 führte.

Erst 2023 gewann die progressiv­e Entkoppelu­ng der vormals eng verbundene­n Handelspar­tner rasant an Fahrt. Dies gerade auch dadurch, dass sich ab Ende 2022 zu den zwölf und damit beispiello­s umfangreic­hen EU-Sanktionsp­aketen das Ölembargo gesellt hatte und Europas Länder erfolgreic­h bei der Suche nach alternativ­en Gasliefera­nten – insbesonde­re in den USA – fündig geworden waren.

Russland selbst freilich stand derweil auch nicht still und war wendiger als erwartet. Nicht nur, dass eine hochprofes­sionelle Zentralban­k den externen Schock für das Finanzsyst­em abgefedert hat. Und nicht nur, dass die krisenerfa­hrenen Privatunte­rnehmer unter anderem den Aufbau eines parallelen Imports sanktionie­rter Güter und die Etablierun­g neuer Logistikro­uten managten, sodass 2022 der Wirtschaft­seinbruch auf 2,1 Prozent beschränkt werden konnte. Russland hat vor allem mit der Hinwendung zu Asien und insbesonde­re zu China seinen Außenhande­l neu strukturie­rt und mit der Organisati­on einer eigenen Öltankerfl­otte eine gewisse Umgehung des Ölembargos hingekrieg­t, sodass 2023 ein Wirtschaft­swachstum von über drei Prozent erzielt werden konnte.

Europa hinterläss­t Lücke

Gewiss, die Südostasia­ten ersetzen die Lücke, die Europa – und zum Teil auch die USA – in Russland hinterläss­t, nicht gänzlich, da sie Russland ganz offenbar nicht bei der Modernisie­rung helfen wollen. Niemand Geringerer als Moskaus Bürgermeis­ter, Sergej Sobjanin, sprach im Herbst sogar schon offen von einem Wirtschaft­skrieg mit den asiatische­n Ländern, die weit härter seien als Europa: Sie würden ihre eigenen Produzente­n präferiere­n, also Dumping betreiben, sagte er. Und überhaupt wolle niemand von diesen Ländern Russland moderne Technologi­en schenken, die es im Westen nicht mehr bekomme. Bestenfall­s würden sie sie zum doppelten Preis verkaufen.

Der Mangel an westlichen Hightechba­uteilen werde zu einer „Primitivis­ierung“der russischen Wirtschaft führen, erwartet daher Vasilij Astrov vom Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e. Und auch bei den Investitio­nen aus China hat Russland vorerst wenig zu erwarten, sagte Igor Lipsic, Gründer der größten russischen Wirtschaft­suniversit­ät HSE, kürzlich im Interview mit der „Presse“: „Was wir nicht sehen, ist, dass Chinesen eine Produktion in Russland entwickeln.“

Der Schwenk um 180 Grad

Die Mängel in den Wirtschaft­sbeziehung­en mit dem Reich der Mitte sind gegenwärti­g freilich nicht das, was den Kreml anficht. Vielmehr kann er den rasanten Ausbau des bilaterale­n Handelsvol­umens vor sich hertragen. Bereits im ersten Jahr des Ukraine-Krieges stieg dieses steil an und 2023 dann nochmals um 26,3 Prozent auf den Rekordwert von 240,11 Mrd. Dollar. Der Anteil Chinas am gesamten russischen Außenhande­l hat sich demnach binnen weniger Jahre auf nunmehr 32 Prozent verdoppelt. Und nimmt man alle Länder zusammen, die Russland aufgrund ihrer Nichtteiln­ahme an den Sanktionen als freundlich­e Staaten einstuft, so ist ihr Anteil am russischen Außenhande­l binnen zweier Jahre von 46 auf 77 Prozent hochgescho­ssen, erklärte Wirtschaft­sminister Maxim Reschetnik­ow kürzlich.

Derweil hat die EU nicht nur den Status von Russlands wichtigste­m Handelspar­tner verloren. Ihr Anteil am Außenhande­l ist laut Reschetnik­ow von zuvor 36 Prozent auf 15 Prozent förmlich implodiert.

Aus Sicht der EU steht Russland nun nur mehr für weniger als eineinhalb Prozent des gesamten EUExports in Drittstaat­en und für weniger als zwei Prozent des Imports von ebendort – ein Fünftel gegenüber der Zeit vor den Sanktionen.

Und dennoch bleibt Russland für Europa wirtschaft­lich im Spiel. Gerade bei Energieträ­gern gestaltet sich die Entkoppelu­ng in manchen Ländern schwierig. Das russische Wirtschaft­smedium RBK hat anhand der Eurostat-Daten errechnet, dass von den 50,64 Mrd. Euro, die Russland 2023 in Europa verdient hat, 29,1 Milliarden aus dem Öl- und Gasexport kommen. Dabei ist der Anteil Russlands am Ölimport der EU von 27 Prozent im vierten Quartal 2021 auf drei Prozent im vierten Quartal 2023 reduziert worden, während der Anteil der USA von acht auf 15 Prozent gestiegen ist. Und bei den Gasimporte­n ist Russlands Anteil von 33 auf 13 Prozent eingebroch­en, während der Anteil der USA von zwölf auf 22 Prozent hochgeschn­ellt ist.

Verblieben­e Abhängigke­iten

Auch bei anderen Produkten braucht die EU Russland weiter. Konkret bei Nickel, Palladium, Titan, Aluminium, Düngemitte­l oder angereiche­rtem Uran. Die EU hat – ähnlich wie die USA – bei diesen Produkten keine Handelsbes­chränkunge­n verhängt und auch den Oligarchen Wladimir Potanin, den weltgrößte­n Palladiump­roduzenten und mit geschätzt 23,7 Mrd. Dollar zweitreich­sten Russen, nicht auf die Sanktionsl­iste gesetzt.

Doch die Bande, die nach drei Jahrzehnte­n Zusammenwa­chsen geblieben sind, sind dünn. Und beim EU-Export nach Russland stark auf medizinisc­he Produkte reduziert. Durch den Ukraine-Krieg hat sich Europa in eine stärkere Abhängigke­it von den USA begeben, Russland aber ist in einer noch weitaus größeren Abhängigke­it von China gelandet.

 ?? ??
 ?? ??
 ?? [Reuters/Maxim Shemetov] ?? Heizkraftw­erk und Wolkenkrat­zer des Moskauer Internatio­nal Business Center.
[Reuters/Maxim Shemetov] Heizkraftw­erk und Wolkenkrat­zer des Moskauer Internatio­nal Business Center.

Newspapers in German

Newspapers from Austria