Die Bande sind durchschnitten
Vom einst blühenden Handel zwischen der EU und Russland ist heute nur noch wenig übrig. Russland hat im Vergleich mehr verloren. Doch Europa bleibt zum Teil abhängig.
Moskau/Wien. Drei postsowjetische Jahrzehnte lang haben Russland und die heute 27 EU-Staaten ihre wirtschaftlichen Verbindungen auf- und ausgebaut. Haben die Bande immer enger geknüpft, sodass beide Seiten profitierten, indem Europa billige Energieträger bekam und Russland die Hunderten Milliarden Dollar, die zumindest in Teilen des Landes zum ersten Wohlstand in seiner Geschichte führten. In den besten Zeiten kam auf die EU mehr als die Hälfte des russischen Außenhandelsvolumens. Und im Jahr 2013 vor der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und den folgenden Sanktionen wurden noch Waren im Wert von 393 Mrd. Dollar ausgetauscht.
Das alles ist durch den UkraineKrieg und die beispiellos umfangreichen Sanktionen des Westens nun Schnee von gestern. Der epochale Bruch, der im ersten Kriegsjahr 2022 durch die damals exorbitanten Energiepreise noch verhüllt wurde, ist endgültig vollzogen – und mit den neuen Zahlen von 2023 offensichtlich geworden.
Unter dem Strich ist der Wert des Warenaustauschs 2023 gegenüber dem Vorkriegsjahr 2021 um fast zwei Drittel eingebrochen, wie die Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat zeigen. Waren im 2021 noch Güter im Gesamtwert von 252,84 Mrd.
Euro ausgetauscht worden, so zwei Jahre später im Ausmaß von nur noch
88,96 Milliarden.
Beide Seiten haben dabei massenhaft Federn gelassen. In absoluten Zahlen und prozentuell allerdings traf es Russland stärker. Während nämlich der EU-Export nach Russland binnen der genannten zwei Jahre von zuvor 89,19 Milliarden um 57 Prozent auf 38,32 Milliarden Euro abgesackt ist, brach der russische Export in die EU von 163,65 Milliarden um 69 Prozent auf 50,64 Mrd. Euro ein.
Anomales erstes Kriegsjahr
Im ersten Kriegsjahr 2022 hatte man ein solches Ausmaß noch nicht erahnen können, weil der Preisschock bei Rohstoffen den Wert der russischen Exporte in die EU – bei geringeren Liefermengen – auf 202,66 Milliarden Euro hatte hochschnellen lassen und Russland einen exorbitanten Handelsbilanzüberschuss beschert hatte, was angesichts der damals bereits gefallenen Importe aus der EU zu einer extremen Aufwertung des Rubels Mitte 2022 führte.
Erst 2023 gewann die progressive Entkoppelung der vormals eng verbundenen Handelspartner rasant an Fahrt. Dies gerade auch dadurch, dass sich ab Ende 2022 zu den zwölf und damit beispiellos umfangreichen EU-Sanktionspaketen das Ölembargo gesellt hatte und Europas Länder erfolgreich bei der Suche nach alternativen Gaslieferanten – insbesondere in den USA – fündig geworden waren.
Russland selbst freilich stand derweil auch nicht still und war wendiger als erwartet. Nicht nur, dass eine hochprofessionelle Zentralbank den externen Schock für das Finanzsystem abgefedert hat. Und nicht nur, dass die krisenerfahrenen Privatunternehmer unter anderem den Aufbau eines parallelen Imports sanktionierter Güter und die Etablierung neuer Logistikrouten managten, sodass 2022 der Wirtschaftseinbruch auf 2,1 Prozent beschränkt werden konnte. Russland hat vor allem mit der Hinwendung zu Asien und insbesondere zu China seinen Außenhandel neu strukturiert und mit der Organisation einer eigenen Öltankerflotte eine gewisse Umgehung des Ölembargos hingekriegt, sodass 2023 ein Wirtschaftswachstum von über drei Prozent erzielt werden konnte.
Europa hinterlässt Lücke
Gewiss, die Südostasiaten ersetzen die Lücke, die Europa – und zum Teil auch die USA – in Russland hinterlässt, nicht gänzlich, da sie Russland ganz offenbar nicht bei der Modernisierung helfen wollen. Niemand Geringerer als Moskaus Bürgermeister, Sergej Sobjanin, sprach im Herbst sogar schon offen von einem Wirtschaftskrieg mit den asiatischen Ländern, die weit härter seien als Europa: Sie würden ihre eigenen Produzenten präferieren, also Dumping betreiben, sagte er. Und überhaupt wolle niemand von diesen Ländern Russland moderne Technologien schenken, die es im Westen nicht mehr bekomme. Bestenfalls würden sie sie zum doppelten Preis verkaufen.
Der Mangel an westlichen Hightechbauteilen werde zu einer „Primitivisierung“der russischen Wirtschaft führen, erwartet daher Vasilij Astrov vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Und auch bei den Investitionen aus China hat Russland vorerst wenig zu erwarten, sagte Igor Lipsic, Gründer der größten russischen Wirtschaftsuniversität HSE, kürzlich im Interview mit der „Presse“: „Was wir nicht sehen, ist, dass Chinesen eine Produktion in Russland entwickeln.“
Der Schwenk um 180 Grad
Die Mängel in den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Reich der Mitte sind gegenwärtig freilich nicht das, was den Kreml anficht. Vielmehr kann er den rasanten Ausbau des bilateralen Handelsvolumens vor sich hertragen. Bereits im ersten Jahr des Ukraine-Krieges stieg dieses steil an und 2023 dann nochmals um 26,3 Prozent auf den Rekordwert von 240,11 Mrd. Dollar. Der Anteil Chinas am gesamten russischen Außenhandel hat sich demnach binnen weniger Jahre auf nunmehr 32 Prozent verdoppelt. Und nimmt man alle Länder zusammen, die Russland aufgrund ihrer Nichtteilnahme an den Sanktionen als freundliche Staaten einstuft, so ist ihr Anteil am russischen Außenhandel binnen zweier Jahre von 46 auf 77 Prozent hochgeschossen, erklärte Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow kürzlich.
Derweil hat die EU nicht nur den Status von Russlands wichtigstem Handelspartner verloren. Ihr Anteil am Außenhandel ist laut Reschetnikow von zuvor 36 Prozent auf 15 Prozent förmlich implodiert.
Aus Sicht der EU steht Russland nun nur mehr für weniger als eineinhalb Prozent des gesamten EUExports in Drittstaaten und für weniger als zwei Prozent des Imports von ebendort – ein Fünftel gegenüber der Zeit vor den Sanktionen.
Und dennoch bleibt Russland für Europa wirtschaftlich im Spiel. Gerade bei Energieträgern gestaltet sich die Entkoppelung in manchen Ländern schwierig. Das russische Wirtschaftsmedium RBK hat anhand der Eurostat-Daten errechnet, dass von den 50,64 Mrd. Euro, die Russland 2023 in Europa verdient hat, 29,1 Milliarden aus dem Öl- und Gasexport kommen. Dabei ist der Anteil Russlands am Ölimport der EU von 27 Prozent im vierten Quartal 2021 auf drei Prozent im vierten Quartal 2023 reduziert worden, während der Anteil der USA von acht auf 15 Prozent gestiegen ist. Und bei den Gasimporten ist Russlands Anteil von 33 auf 13 Prozent eingebrochen, während der Anteil der USA von zwölf auf 22 Prozent hochgeschnellt ist.
Verbliebene Abhängigkeiten
Auch bei anderen Produkten braucht die EU Russland weiter. Konkret bei Nickel, Palladium, Titan, Aluminium, Düngemittel oder angereichertem Uran. Die EU hat – ähnlich wie die USA – bei diesen Produkten keine Handelsbeschränkungen verhängt und auch den Oligarchen Wladimir Potanin, den weltgrößten Palladiumproduzenten und mit geschätzt 23,7 Mrd. Dollar zweitreichsten Russen, nicht auf die Sanktionsliste gesetzt.
Doch die Bande, die nach drei Jahrzehnten Zusammenwachsen geblieben sind, sind dünn. Und beim EU-Export nach Russland stark auf medizinische Produkte reduziert. Durch den Ukraine-Krieg hat sich Europa in eine stärkere Abhängigkeit von den USA begeben, Russland aber ist in einer noch weitaus größeren Abhängigkeit von China gelandet.