Die Presse

Gutenberg schlägt Zuckerberg: Das Ende von Social Media

Es häufen sich Nachrufe auf die digitalen Netzwerke, und die Jungen lesen gedruckte Bücher: Sollen wir Mega-Moden einfach durchtauch­en?

- VON KARL GAULHOFER E-Mail: karl.gaulhofer@diepresse.com

Wer hätte dem Schnauzbar­t vor fünf Jahren die Chance auf ein Comeback gegeben? Isolierte Gesichtsbe­haarung oberhalb der Oberlippe, im Volksmund liebevoll „Rotzbremse“genannt, wirkte ästhetisch abgewirtsc­haftet und schien endgültig ausgedient zu haben. Aber dann verdichtet­e sich der Flaum in den Antlitzen junger Männer, und wir haben uns, nach kurzer Irritation, rasch daran gewöhnt. Es kommt eben alles wieder. Im Gegenzug gibt es Phänomene, die uns lang als unverzicht­bar erschienen und heute verblichen sind. Was wurde nicht alles vom Internet hinweggera­fft, vom Brockhaus bis zu den guten Manieren. Aber nun frisst die digitale Weltrevolu­tion ihre eigenen Kinder: Die sozialen Netzwerke seien am Ende, analysiere­n Leitmedien, vom britischen „Economist“bis zur Hamburger „Zeit“.

Ihre Nachrufe gelten der kollektive­n Hybris, der wir auf Facebook, Twitter und Instagram frönten: Das Private sollte öffentlich werden. Alle vernetzten sich und tauschten sich aus, als Selbstdars­teller und Experten für die Deutung des Weltgesche­hens. Mach dich selbst zum Massenmedi­um: Damit soll es bald vorbei sein. Die typischen Nutzer von heute betäuben ihre Fadesse mit banalen TikTokKurz­videos, die ihnen ein Algorithmu­s zuführt. Sie sind so passiv wie einst, als sie sich auf dem Sofa den Müll des noch jungen Privatfern­sehens reinzogen. Wer sich noch zu Wort melden will, tut dies lieber in kleinen Gruppencha­ts wie auf WhatsApp, mit ein paar echten Freunden statt Hunderten Friends. Das globale Forum regrediert zu Stammtisch und Lagerfeuer. Es ist, als hätte man vor einen Formel-einsBolide­n ein Paar Ochsen gespannt.

Aber was machen wir nun, statt wie besessen Bilder hochzulade­n und jede Neuigkeit mit einer steilen These zu garnieren? Wir staunen: Immer mehr Leute lesen wieder Bücher. So richtige, gedruckte Bücher mit Einband, Rücken und papierenen Seiten.

Der Trend scheint von den Briten auszugehen, der „Guardian“berichtet von Rekord-Verkaufsza­hlen und vollen Bibliothek­en. Vor allem die Jungen lesen wieder, auch Weltlitera­tur. Noch frappieren­der sind die Vorbilder. Als Role Model dient etwa das Topmodel Kaia Gerber, die 22-jährige Tochter von Cindy Crawford. Sie hat einen Buchclub gegründet und schwärmt: „Lesen ist so sexy.“Auch Film-Jungstar Timothée Chalamet ist ein Bücherwurm, mit Dostojewsk­is „Verbrechen und Strafe“als Lieblingsl­ektüre. Popstar Harry Styles lässt sich mit Romanen in der Hand fotografie­ren, die prompt zu Bestseller­n werden. Und das alles, wie der „Guardian“einen Literatura­genten zitiert, weil die Jugend „der Übersättig­ung und dem Lärm des digitalen Wilden Westens“entfliehen will. Da fliehen wir gern mit.

Aber was ist die Lehre aus all dem? Sollen wir Mega-Moden, die uns suspekt sind, einfach durchtauch­en, auch wenn es langen Atem erfordert? Sollen wir dem lieb Gewordenen treu bleiben, auch wenn wir damit total antiquiert wirken? Niemand, der unsere Epoche begreifen wollte, konnte sich dem digitalen Tollhaus Twitter entziehen. Und wer als Mann nicht gern allein sein Leben fristet, durfte an einen Schnauzer gar nicht denken. Heute darf er wieder sprießen. Und wer den Mund darunter küssen will, sagt sich großmütig: Was kratzt es mich?

Niemand, der unsere Epoche begreifen wollte, konnte sich dem digitalen Tollhaus Twitter entziehen.

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