Meister im kulturellen Gedächtnis
Er ergründete Ägypten und Moses, den Exodus und die „Zauberflöte“: Der große Kultur- und Religionswissenschaftler Jan Assmann ist 85-jährig in Konstanz gestorben.
Jan Assmann, der große, so glühende wie geduldige, so versöhnliche wie streitbare deutsche Kulturwissenschaftler, ist gestorben. Gleich nach dem ersten Schrecken auf diese Nachricht fällt einem wie als Trost die „sehr einfache Formel“ein, die Assmann in seinem Opus magnum „Tod und Jenseits im alten Ägypten“(2001) ganz zu Anfang geschrieben hat: „Der Tod ist Ursprung und Mitte der Kultur.“
Das trifft natürlich in besonderem Maß auf die altägyptische Kultur zu, die er, beginnend mit archäologischer Feldarbeit in Theben 1967, tief ergründet hat. Die Begräbnisriten, die heiligen Formeln des Totengerichts analysierte er bis ins etymologische Detail. Dem Begriff der Ma’at, der Weltordnung, die sich am Himmel in den Bahnen der Gestirne und im menschlichen Bereich als Gerechtigkeit manifestiert, widmete er ein ganzes Buch, dem man, bei aller wissenschaftlicher Zurückhaltung, die Begeisterung für diese so langlebige Kultur anmerkte.
Früh faszinierte ihn auch die Figur des Ketzerkönigs Echnaton, des ersten Monotheisten, den Sigmund Freud in seiner letzten Schrift zum Lehrer des Moses erklärt hatte. Ist das wahr? Oder nur eine kulturelle Konstruktion? Assmann fand quasi einen Mittelweg: Die auch in der Tora tradierte, in der Geschichte vom Findelkind kaschierte Erzählung von Moses als Ägypter sei kulturelles Gedächtnis, sozusagen in einem höheren Sinn wahr, selbst wenn sie nicht faktisch wahr sein sollte. Dieses Konzept des kulturellen Gedächtnisses, der Gedächtnisgeschichte, der es „nicht um die Vergangenheit als solche“geht, „sondern nur um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird“, entwickelte er gemeinsam mit seiner Frau, Aleida Assmann, die sich dem Thema von einer anderen Seite näherte. Sie erforschte etwa den Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust.
Mosaische Unterscheidung
Auch schon im 1998 erschienenen Buch „Moses der Ägypter“kam Assmann auf ein Leitmotiv, das in seinem Werk fortan immer wieder aufkam: der religiösen, aber auch politischen Umwälzung, die die Einführung des Monotheismus brachte. Mit der „mosaischen Unterscheidung“zwischen wahr und falsch sei eine neue Unduldsamkeit in die Welt gekommen, befand Assmann: die Idee, dass wahrer Glaube sich gegen den Unglauben wehren müsse, dass der wahre Gott keine anderen Götter dulde. So las er aus den Büchern Exodus und Deuteronomium „Gräuelpropaganda gegen die Kanaanäer im eigenen Land“. Wer daraus auf antijüdische Tendenzen Assmanns schließen wollte, den belehrte spätestens dessen Buch „Exodus“eines Besseren: Mit all der Eindringlichkeit, die ihm auch stilistisch zur Verfügung stand, pries er die Bedeutung des Auszugs aus Ägypten, die Befreiung des Volks Israel aus der Sklaverei, als Vorbild für alle Befreiungsbewegungen, letztlich auch für die Aufklärung als Befreiung aus Unmündigkeit. Das zweite Buch Mose enthalte „die wahrscheinlich grandioseste und folgenreichste Geschichte, die sich Menschen jemals erzählt haben“, schrieb er.
Er selbst sei nicht gläubig, aber religiös, sagte Assmann einmal in der „Presse“: Die verbreitete Philosophenformel, man sei leider „religiös unmusikalisch“, war nicht seine. Vielleicht auch, weil er ganz und gar nicht unmusikalisch war: Mozarts „Zauberflöte“begeisterte ihn nicht nur wegen der freimaurerischen Aneignung des alten Ägyptens. Er widmete dieser Oper und ihrem Mysterium 2005, als er schon vom Professorenamt an der Universität Heidelberg emeritiert war und sich mehr Freiheit gönnte, ein ganzes Buch. Wie auch Beethovens Missa solemnis, in der er das Schema des Gottesdienstes nachvollzog und aus der er den Übergang von religiösem Kult zu autonomem Glauben – und autonomer Kunst – hörte. Und auch sein Buch „Exodus“kam nicht ohne einen profunden Exkurs über Schönbergs „Moses und Aron“aus. Darin brachte er seine Theorie der monotheistischen Revolution noch einmal auf eine alternative Formel: „Wo Bild war, soll Tora werden. Wo Bild ist, kann Tora nicht sein.“
Er nahm Thomas Mann sehr ernst
In seiner protestantisch geprägten, ernsthaften, nie offensichtlich ironischen Art, in der er manchmal an einen weltoffenen Pastor erinnerte, war er merkwürdigerweise einem Schriftsteller nahe, der so gar nicht unironisch ist: Thomas Mann, dessen Josephsromane er als Erster ganz dezidiert – und wohl zu Recht – theologisch ernst nahm: Mit den ersten Worten von Manns „Die Geschichten Jaakobs“begann er seine Würdigung: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“
Auch das wäre ein mögliches Werkmotto Jan Assmanns, der nun mit 85 Jahren in Konstanz gestorben ist. Er hinterlässt seine Frau, Aleida, mit der er jahrzehntelang ein trautes, inniges Gelehrtenpaar gebildet hat, fünf gemeinsame Kinder und, ja, eine große Menge Stoff über und für das kulturelle Gedächtnis. Er wird lang darin bleiben.