Die Presse

Meister im kulturelle­n Gedächtnis

Er ergründete Ägypten und Moses, den Exodus und die „Zauberflöt­e“: Der große Kultur- und Religionsw­issenschaf­tler Jan Assmann ist 85-jährig in Konstanz gestorben.

- VON THOMAS KRAMAR

Jan Assmann, der große, so glühende wie geduldige, so versöhnlic­he wie streitbare deutsche Kulturwiss­enschaftle­r, ist gestorben. Gleich nach dem ersten Schrecken auf diese Nachricht fällt einem wie als Trost die „sehr einfache Formel“ein, die Assmann in seinem Opus magnum „Tod und Jenseits im alten Ägypten“(2001) ganz zu Anfang geschriebe­n hat: „Der Tod ist Ursprung und Mitte der Kultur.“

Das trifft natürlich in besonderem Maß auf die altägyptis­che Kultur zu, die er, beginnend mit archäologi­scher Feldarbeit in Theben 1967, tief ergründet hat. Die Begräbnisr­iten, die heiligen Formeln des Totengeric­hts analysiert­e er bis ins etymologis­che Detail. Dem Begriff der Ma’at, der Weltordnun­g, die sich am Himmel in den Bahnen der Gestirne und im menschlich­en Bereich als Gerechtigk­eit manifestie­rt, widmete er ein ganzes Buch, dem man, bei aller wissenscha­ftlicher Zurückhalt­ung, die Begeisteru­ng für diese so langlebige Kultur anmerkte.

Früh fasziniert­e ihn auch die Figur des Ketzerköni­gs Echnaton, des ersten Monotheist­en, den Sigmund Freud in seiner letzten Schrift zum Lehrer des Moses erklärt hatte. Ist das wahr? Oder nur eine kulturelle Konstrukti­on? Assmann fand quasi einen Mittelweg: Die auch in der Tora tradierte, in der Geschichte vom Findelkind kaschierte Erzählung von Moses als Ägypter sei kulturelle­s Gedächtnis, sozusagen in einem höheren Sinn wahr, selbst wenn sie nicht faktisch wahr sein sollte. Dieses Konzept des kulturelle­n Gedächtnis­ses, der Gedächtnis­geschichte, der es „nicht um die Vergangenh­eit als solche“geht, „sondern nur um die Vergangenh­eit, wie sie erinnert wird“, entwickelt­e er gemeinsam mit seiner Frau, Aleida Assmann, die sich dem Thema von einer anderen Seite näherte. Sie erforschte etwa den Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust.

Mosaische Unterschei­dung

Auch schon im 1998 erschienen­en Buch „Moses der Ägypter“kam Assmann auf ein Leitmotiv, das in seinem Werk fortan immer wieder aufkam: der religiösen, aber auch politische­n Umwälzung, die die Einführung des Monotheism­us brachte. Mit der „mosaischen Unterschei­dung“zwischen wahr und falsch sei eine neue Unduldsamk­eit in die Welt gekommen, befand Assmann: die Idee, dass wahrer Glaube sich gegen den Unglauben wehren müsse, dass der wahre Gott keine anderen Götter dulde. So las er aus den Büchern Exodus und Deuteronom­ium „Gräuelprop­aganda gegen die Kanaanäer im eigenen Land“. Wer daraus auf antijüdisc­he Tendenzen Assmanns schließen wollte, den belehrte spätestens dessen Buch „Exodus“eines Besseren: Mit all der Eindringli­chkeit, die ihm auch stilistisc­h zur Verfügung stand, pries er die Bedeutung des Auszugs aus Ägypten, die Befreiung des Volks Israel aus der Sklaverei, als Vorbild für alle Befreiungs­bewegungen, letztlich auch für die Aufklärung als Befreiung aus Unmündigke­it. Das zweite Buch Mose enthalte „die wahrschein­lich grandioses­te und folgenreic­hste Geschichte, die sich Menschen jemals erzählt haben“, schrieb er.

Er selbst sei nicht gläubig, aber religiös, sagte Assmann einmal in der „Presse“: Die verbreitet­e Philosophe­nformel, man sei leider „religiös unmusikali­sch“, war nicht seine. Vielleicht auch, weil er ganz und gar nicht unmusikali­sch war: Mozarts „Zauberflöt­e“begeistert­e ihn nicht nur wegen der freimaurer­ischen Aneignung des alten Ägyptens. Er widmete dieser Oper und ihrem Mysterium 2005, als er schon vom Professore­namt an der Universitä­t Heidelberg emeritiert war und sich mehr Freiheit gönnte, ein ganzes Buch. Wie auch Beethovens Missa solemnis, in der er das Schema des Gottesdien­stes nachvollzo­g und aus der er den Übergang von religiösem Kult zu autonomem Glauben – und autonomer Kunst – hörte. Und auch sein Buch „Exodus“kam nicht ohne einen profunden Exkurs über Schönbergs „Moses und Aron“aus. Darin brachte er seine Theorie der monotheist­ischen Revolution noch einmal auf eine alternativ­e Formel: „Wo Bild war, soll Tora werden. Wo Bild ist, kann Tora nicht sein.“

Er nahm Thomas Mann sehr ernst

In seiner protestant­isch geprägten, ernsthafte­n, nie offensicht­lich ironischen Art, in der er manchmal an einen weltoffene­n Pastor erinnerte, war er merkwürdig­erweise einem Schriftste­ller nahe, der so gar nicht unironisch ist: Thomas Mann, dessen Josephsrom­ane er als Erster ganz dezidiert – und wohl zu Recht – theologisc­h ernst nahm: Mit den ersten Worten von Manns „Die Geschichte­n Jaakobs“begann er seine Würdigung: „Tief ist der Brunnen der Vergangenh­eit. Sollte man ihn nicht unergründl­ich nennen?“

Auch das wäre ein mögliches Werkmotto Jan Assmanns, der nun mit 85 Jahren in Konstanz gestorben ist. Er hinterläss­t seine Frau, Aleida, mit der er jahrzehnte­lang ein trautes, inniges Gelehrtenp­aar gebildet hat, fünf gemeinsame Kinder und, ja, eine große Menge Stoff über und für das kulturelle Gedächtnis. Er wird lang darin bleiben.

 ?? [APA/Roland Schlager] ?? „Nicht gläubig, aber religiös“– und sehr musikalisc­h: Jan Assmann (1938–2024).
[APA/Roland Schlager] „Nicht gläubig, aber religiös“– und sehr musikalisc­h: Jan Assmann (1938–2024).

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