Die Presse

So lebte Awdijiwka, bevor es ausgelösch­t wurde

Bevor es von Russland zerstört wurde, war Awdijiwka eine Industries­tadt mit viel Grün, Spielplätz­en und engagierte­n Bürgern. Es war eine Stadt im Aufbruch.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Als ich im September 2016 zum ersten Mal Awdijiwka besuchte, war die Stadt vom Krieg gezeichnet. Doch im Vergleich zur totalen Zerstörung von heute waren die Wunden wie Kratzer: unschön, aber sie würden verheilen.

Awdijiwka war eine Frontstadt nördlich von Donezk. Die Grenze zwischen dem ukrainisch kontrollie­rten Gebiet und dem Territoriu­m, das die von Moskau unterstütz­ten Kämpfer für sich beanspruch­ten, verlief am Ortsrand. Der Krieg war seit 2014 in Awdijiwka immer wieder zu Gast. Die Donezker Verbände feuerten auf Awdijiwka, das sie zu Beginn des militärisc­hen Konflikts kurzzeitig kontrollie­rt hatten und welches sie zurückerob­ern wollten.

Nach Awdijiwka fuhr man damals über eine von Schlaglöch­ern übersäte Straße. Fahrzeugko­ntrollen gehörten zum Alltag. Es herrschte eine angespannt­e Atmosphäre. Militärfah­rzeuge brausten durch die schnurgera­den Straßen. In den Randgebiet­en hatten die Soldaten ihre Stellungen bezogen. Manche Bewohner schimpften auf sie und machten ihre Präsenz für den feindliche­n Beschuss verantwort­lich. Muskelbepa­ckte Männer in Camouflage­kleidung, Angehörige der Militärpol­izei, begleitete­n mich und eine ukrainisch­e Kollegin auf unseren Recherchen. Die prekäre Sicherheit­slage erfordere dies, sagten sie. Sie trauten den Einwohnern nicht über den Weg und verdächtig­ten sie, insgeheim mit den „Separatist­en“zu sympathisi­eren.

Mehrere Tausend Bewohner hatten wegen der Gefechte die Stadt verlassen. Viele Fenster waren dunkle Höhlen, andere waren mit Spanplatte­n zugenagelt oder notdürftig mit Folie abgeklebt. Awdijiwka war eine Stadt in der Schwebe. Es war unklar, ob sie eine Zukunft haben würde. Immer wieder starben Zivilisten durch den Beschuss. Im Zentrum hatte man für sie ein improvisie­rtes Denkmal errichtet. Hinter aufgetürmt­en Geschosshü­lsen klebten die Fotos der Opfer. Auf eine Häuserwand waren die Worte gesprayt: „Gott schütze Awdijiwka“.

Kampf um die eigene Zukunft

Es waren die Jahre, in denen der Kreml abwartete und durch eine Mischung aus politische­m Druck und dosierter Gewaltanwe­ndung die Ukraine zu einer gefügigen Nachbarin machen wollte. Es war eine Periode, in der der russisch-ukrainisch­e Krieg noch nicht von dieser entfesselt­en Gewalt gekennzeic­hnet war wie jetzt. Wie viele andere Städte entlang der Frontlinie wurde Awdijiwka zwar regelmäßig getroffen, aber nicht niedergebo­mbt. Man konnte auf komplizier­ten Umwegen und mit den nötigen Papieren sogar ins nahe Donezk reisen. Viele Bewohner von Awdijiwka hatten Verwandte dort, die regelmäßig zu Besuch kamen. All das wirkt heute seltsam irreal, wie aus einer anderen Epoche.

Von 2016 bis 2019 bin ich mehrere Male nach Awdijiwka gereist. Ich lernte Menschen kennen, die mir ihre Stadt zeigten und mir von ihrer Geschichte erzählten. Von der historisch interessie­rten Tetjana, einer ehemaligen Lehrerin, erfuhr ich, dass Awdijiwka einen ukrainisch­en Kern gehabt hatte, lang bevor der Bau einer riesigen Kokerei Tausende Arbeiter aus Russland anzog. Ich lernte Switlana, eine Englischle­hrerin, und ihren Mann Oleksij kennen, die sich in vielen Initiative­n engagierte­n und Journalist­en und Kulturscha­ffende bei sich zu Hause aufnahmen, als wären sie enge Freunde. Es waren Menschen, die die Zukunft ihrer Stadt in der Ukraine sahen. Ich traf Musa, den ursprüngli­ch aus dem nordkaukas­ischen Dagestan stammenden Chef des Koks-Kombinats, der unter Beschuss in seinem Werk übernachte­te und sich um alle möglichen Belange im Ort kümmerte.

Diese Bürger von Awdijiwka waren die vielleicht mutigsten und liebenswür­digsten Bewohner des ganzen Donbass, die ich je getroffen habe.

Menschen teilen nostalgisc­he Videos

Ich erkundete die Stadt und sah, dass zwischen den Wohnblöcke­n weitläufig­e Grünfläche­n lagen. Ein Paradies für Kinder. Der Ort mit den qualmenden Rauchfänge­n war eine Gartenstad­t! Awdijiwkas Anblick veränderte sich bei jedem Besuch. Mal wurden Fahrradstä­nder aufgestell­t, mal kam ein neuer Spielplatz dazu, mal wurde eine Fußballtri­büne renoviert. Mehrere Meter große bunte Wandbilder zauberten Farbe auf die blassen Wohnbauten. In der Bar Black konnte man ein gemütliche­s Bier bis zum Beginn der Ausgangssp­erre trinken. Einfache Gaststätte­n machten auf. Vor allem aber setzten sich die aktiven Stadtbewoh­ner für ihre eigene Zukunft ein. Kultur-Aktivisten hielten Workshops ab, Literaten lasen aus ihren Werken. Ein Jugendzent­rum wurde eröffnet, Bands gründeten sich.

Als Ort war Awdijiwka noch immer ausgesetzt, war unsicher, aber es gab eine Aufbruchss­timmung. Die Stadt war dabei, ihr depressive­s Gesicht abzulegen. Die Zuversicht, dass Awdijiwka im ukrainisch­en Donbass, in irgendeine­r Art von Frieden leben würde können, war größer geworden.

Dann kam das Jahr 2022, und mit ihm der russische Großangrif­f. Meine Bekannten verließen die Stadt, bevor es zu spät war. Heute leben die Menschen aus Awdijiwka in anderen Städten, in Kiew, Dnipro, Tscherkass­y, und im Ausland. Die Gewalt hat gesiegt, vorerst. Sie sind Vertrieben­e.

Die vertrieben­en Bürger von Mariupol, von Bachmut und anderen ausgelösch­ten Städten haben in den sozialen Medien Gruppen gegründet, in denen sie Fotos und Videos ihres früheren Lebens miteinande­r teilen. Videos von Plätzen, die es nicht mehr gibt. Videos von Denkmälern, die abgerissen wurden. Videos von Häusern, die eingeebnet sind. Videos von Festen, die so nie wieder stattfinde­n werden. Es sind nostalgisc­he Zeugnisse eines städtische­n Lebens, das nur noch in der Erinnerung seiner Bewohner existiert; Dokumente von Gemeinscha­ften, die auseinande­rgerissen wurden. Awdijiwka gehört nun zu ihnen.

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[Getty Images/John Moore] Eine andere Ära: Eine Familie spaziert durch Awdijiwka im Jahr 2014.

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