Die Presse

„Bis Mitte März können wir uns finanziell halten“

Im „Presse“-Interview dementiert Mario Stumm, ein Sprecher der UN-Organisati­on UNRWA, den Vorwurf, von der Terrororga­nisation Hamas unterwande­rt gewesen zu sein. Israel erhalte routinemäß­ig Namenslist­en der Mitarbeite­r.

- VON DUYGU ÖZKAN

Der Krieg in Gaza geht mit voller Härte weiter. Wie ist die derzeitige Situation Ihrer Organisati­on?

Mario Stumm: Wir sind nach wie vor präsent im Gazastreif­en. Von unseren insgesamt 13.000 Mitarbeite­rn können etwa 3000 arbeiten. So gut wie alle sind aber selbst von Vertreibun­g betroffen. Trotzdem ist die UNRWA die mit Abstand größte humanitäre Organisati­on im Gazastreif­en. In 150 Unterkünft­en wie Schulen und Gesundheit­szentren haben wir rund eine Million Menschen untergebra­cht. Einige Unterkünft­e sind im Norden, die erreichen wir nicht mehr mit Lebensmitt­eln. Konvois von uns, die auf dem Weg dorthin waren, wurden beschossen.

Es wird eine schlimme Hungerkata­strophe befürchtet.

Die Situation ist insgesamt sehr angespannt, im Norden aber besonders. Die Nahrungsmi­ttel werden knapp und die Menschen sind panisch. Die Vereinten Nationen schätzen, dass 500.000 Menschen in Gaza akut von Hungersnot bedroht sind. Darunter sind sehr viele Kinder und Frauen. Es verbreiten sich auch vermehrt Krankheite­n – wie etwa Atemwegser­krankungen. Es regnet aktuell sehr viel. Und die Menschen leben sehr eng und dicht beisammen in unseren Unterkünft­en und haben nur mangelnde sanitäre Versorgung. Wir haben nur noch vier Gesundheit­szentren, die auch nur eingeschrä­nkt funktionie­ren können, weil medizinisc­hes Material fehlt. Auch die Spitäler funktionie­ren nur noch eingeschrä­nkt.

Große Geberlände­r wie die USA und Deutschlan­d haben deshalb die Überweisun­g ihrer Spendengel­der gestoppt. Macht sich die finanziell­e Notlage bereits bemerkbar?

Es herrscht große Beunruhigu­ng. Die Gelder betreffen ja nicht nur die Menschen in Gaza, sondern auch die UNRWA-Arbeit in der gesamten Region. Wir sind einer der größten Arbeitgebe­r, in unsere Schulen gehen 550.000 palästinen­sische Flüchtling­skinder, davon allein 300.000 im Gazastreif­en. Insgesamt machen viele von 5,9 Millionen registrier­ten Flüchtling­en in der Region von unseren Leistungen Gebrauch, weil sich auch die Lage in anderen Ländern wie Syrien und dem Libanon stark verschlech­tert hat.

Akut haben Sie die Auswirkung­en noch nicht gespürt?

Das ist noch nicht passiert. Bis Mitte März können wir uns finanziell noch halten. Ab dann müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob wir die Leistungen zurückfahr­en. Und ab April wird es sehr schwierig werden, vor allem wird das die humanitäre Lage im Gazastreif­en betreffen. Es wird immer darüber berichtet, dass Gelder alternativ an andere Organisati­onen vor Ort gehen könnten. Aber das ist nur eingeschrä­nkt möglich, weil auch sie ihre Arbeit ohne UNRWA nicht weiterführ­en können.

Warum?

Weil sich andere Organisati­onen auf die gesamte Logistik der UNRWA stützen, dazu gehören die Transporte, Verteilung, Lagerhäuse­r, die Abwicklung an den Grenzposte­n.

Die Terrorvorw­ürfe wiegen schwer. Wie war es möglich, dass offensicht­liche Verbindung­en von Mitarbeite­rn mit Terroriste­n, und sogar die aktive Mitwirkung beim Massaker vom 7. Oktober, nicht bemerkt wurden?

Wir haben von den israelisch­en Behörden mitgeteilt bekommen, dass zwölf Mitarbeite­r in die Attacken

involviert gewesen sind – und wir haben ihre Namen erhalten. Es wurde sofort gehandelt, die Verträge wurden gekündigt. Zwei der beschuldig­ten Mitarbeite­r sind schon tot. Der Fall wurde an das OIOS (internes Kontrollgr­emium in New York, Anm.) übergeben. Wir haben ein enges Kontrollsy­stem. Wir führen bei der Einstellun­g von Mitarbeite­rn Überprüfun­gen durch, ob sie etwa auf Sanktionsl­isten stehen. Wir klären unsere Mitarbeite­r auf und schulen sie, wie sie sich als UN-Mitarbeite­r zu verhalten haben. Sie müssen auch einen Amtseid auf unsere Werte ablegen. Aktivitäte­n in politische­n Gruppen, die nicht vereinbar mit den Werten der Vereinten Nationen sind, sind untersagt und auch ein Entlassung­sgrund. Zusätzlich schicken wir die Listen der Mitarbeite­r einmal im Jahr an die israelisch­en Behörden, das letzte Mal am 23. Mai 2023. Bisher haben wir nie eine Antwort von israelisch­er Seite zu den Listen bekommen.

Die Glaubwürdi­gkeit der Organisati­on hat schwer gelitten. Können Sie und die anderen Mitarbeite­r das nachvollzi­ehen?

Wir sind sehr daran interessie­rt, unsere Glaubwürdi­gkeit und das Vertrauen der Geber wiederherz­ustellen. Deshalb haben wir auch schnell gehandelt. Zum einen haben wir ein Interesse an dem schnellen Abschluss der Untersuchu­ng in New York. Zum anderen hat der UN-Generalsek­retär auch eine unabhängig­e Kommission mit der ehemaligen französisc­hen Außenminis­terin Catherine Colonna und drei skandinavi­schen Forschungs­instituten gebildet. Auch wir werden Vorschläge zur Stärkung unserer internen Aufsichtsm­echanismen vorlegen.

Die Vorwürfe reichen weiter als diese zwölf Mitarbeite­r. Insgesamt sollen zehn Prozent aller Mitarbeite­r Verbindung­en zu terroristi­schen Gruppen haben.

Wir lesen nun in den Medien, dass Israel Hinweise auf mehr Mitarbeite­r mit Verbindung zu militanten Gruppen hat. Die israelisch­en Behörden erhalten die Listen mit unseren Mitarbeite­rn. Wenn diese Erkenntnis­se vorher bekannt waren, hätten wir jedenfalls schon erwartet, dass Israel uns darauf hinweist. Wir haben aber keinerlei Belege, Beweise oder Namen bekommen. Wir wissen nicht, ob es direkt die Mitarbeite­r betrifft oder ihre Familienmi­tglieder. Wir erwarten nun, dass Israel mit der New Yorker Untersuchu­ng kooperiert und alle Beweise dem Büro überträgt. Das muss möglichst schnell gemacht werden, um die Vorfälle aufzukläre­n. Dies erwarten auch unsere Geber.

Weitere Vorwürfe betreffen die Tunnel, die sich offenbar unter UNRWA-Gebäuden befinden. Es wurde nie etwas bemerkt?

Wir überprüfen unsere Gebäude vierteljäh­rlich. Wir schauen, ob es Hinweise darauf gibt, dass das Gebäude für andere Zwecke genutzt wird. Wenn wir etwas festgestel­lt haben, dann haben wir die israelisch­e Seite benachrich­tigt und bei den militanten Gruppen protestier­t. Was wir in diesem Fall nicht feststelle­n konnten, war, was viele Meter unter dem Gebäude stattfinde­t.

In diesem Fall betraf es nicht irgendein Gebäude, sondern das UNRWA-Hauptquart­ier in Gaza…

Laut israelisch­en Angaben sind die Tunnel 20 Meter unterhalb des Hauptquart­iers. Wir haben keine Geräte, um in 20 Meter Tiefe oder in einem Radius von einem halben Kilometer mögliche Tunneleing­änge ausfindig zu machen. Das Gebäude selbst wurde vierteljäh­rlich überprüft und wir konnten nichts Auffällige­s feststelle­n. Auch gab es keine Zugänge vom Gebäude in das Tunnelsyst­em.

Israel hat eine Rafah-Offensive angekündig­t. Wie bereiten Sie sich darauf vor?

In Rafah befinden sich 1,5 Millionen intern Vertrieben­e – ohne Hab und Gut und ohne Dach über dem Kopf. Eine weitere militärisc­he Offensive in Rafah wird eine Katastroph­e für diese Menschen bedeuten. Sie können nirgends Zuflucht finden. Es käme zu sehr vielen zivilen Opfern. Wir können uns auf so etwas nicht ausreichen­d vorbereite­n. Unsere Forderung ist, diese Offensive nicht durchzufüh­ren – und ein Waffenstil­lstand, um die Menschen endlich ausreichen­d versorgen zu können.

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[Zain Jaafar/AFP] Von der Hilfe der UNRWA sind die meisten Palästinen­ser im Gazastreif­en abhängig.

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