„Wird nie gekannte Wetterextreme mit sich bringen“
Bricht der Golfstrom zusammen, wie eine neue Studie nahelegt, müsse man „um die Stabilität unserer Zivilisation fürchten“, sagt der deutsche Klimaforscher Stefan Rahmstorf – und ortet dennoch Alarmismus.
Der Golfstrom steht vor dem Kollaps, Europa droht eine neue Eiszeit: Diese Katastrophenmeldung machte vergangene Woche weltweit die Runde. Auslöser dafür: eine holländische Studie, die erstmals bewies, dass die Atlantikströmung schlappmachen könnte, wenn durch Erderwärmung und Eisschmelze noch mehr Süßwasser ins Meer gelangt. Wie groß ist die Gefahr dieses Kipppunkts – der, einmal überschritten, zu unwiderruflichen Veränderungen im Weltklima führen würde – wirklich? Und was wären die Folgen? „Die Presse“hat bei einem der weltweit führenden Experten, dem Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, nachgefragt.
Die Presse: Es ist erforscht, dass der Golfstrom sich seit 1950 abschwächt. Ebenso, dass die Gefahr eines Kipppunkts besteht, bei dem dieser zusammenbricht – was ist bei dieser neuen Studie nun anders?
Stefan Rahmstorf: Wichtiger als das, was sich geändert hat, ist das, was bestätigt wurde: Wir sehen zum ersten Mal in einem wirklich hochauflösenden globalen OzeanAtmosphärenmodell, dass es diesen Kipppunkt wirklich so gibt, wie wir es früher in einfacheren Modellen gesehen haben. Das ist eine extrem aufwendige Computersimulation und hat auf einem Höchstleistungsrechner im holländischen Super-Computing-Zentrum ein halbes Jahr gedauert. Es ist beruhigend, dass die Wissenschaft bisher richtig lag. Für die Menschheit ist es eher beunruhigend.
Der Weltklimarat hat dieses Kipprisiko mit weniger als zehn Prozent eingestuft. Ist das falsch?
Es gibt inzwischen vier Studien, die Frühwarnzeichen untersucht haben, und die kommen alle zu dem Schluss, dass wir doch näher dran sind als bislang gedacht. Ich schätze das Risiko inzwischen auch höher als zehn Prozent ein. Entscheidend ist aber, dass es ein Risiko ist, das so einschneidende Folgen hätte, dass man um die Stabilität unserer Zivilisation fürchten muss, wie wir sie kennen. Ein Risiko von zehn oder fünf Prozent Eintritts
wahrscheinlichkeit ist eigentlich inakzeptabel, ist viel zu groß. Das muss man eigentlich mit 99,9 Prozent ausschließen können. Und das können wir nicht.
Kann man vorhersagen, wann ein solcher Kipppunkt eintreten würde?
Dafür brauchte man über einen längeren Zeitraum mehr Beobachtungsdaten, als sie jetzt verfügbar sind. Ich forsche seit Anfang der 90er-Jahre zu dem Thema, und immer noch haben wir diese große Unsicherheit: Wie weit entfernt ist der Kipppunkt? Eine dänische Studie hat letztes Jahr gesagt, dass wir ihn sehr wahrscheinlich schon in diesem Jahrhundert überschreiten. Diese neue Studie hat keinen konkreten Zeitpunkt genannt, außer etwas diffus zu sagen: Die Dänen könnten recht haben.
Durch einen Golfstrom-Kollaps wird es in Europa um bis zu 30 Grad kälter. Kann das nicht die Klimaerwärmung ausgleichen?
Bei der Klimaerwärmung stehen wir bei 1,3 Grad, wir werden wahrscheinlich zwei Grad erreichen. Das kann auf keinen Fall diese
massive regionale Abkühlung kompensieren, die dann vor allem im Nordmeer passieren würde. 30 Grad muss man etwas relativieren, das ist das Maximum in Norwegen im Winter, und zwar ohne Kompensation durch die globale Erwärmung. Aber selbst wenn es etwas Gegeneffekt durch mehr CO2 in der Luft gibt, wären die Folgen trotzdem verheerend. Nicht nur für die Temperaturen in Europa, sondern auch etwa auf den Meeresspiegel.
Inwiefern?
An der amerikanischen Küste würde er einen halben bis einen Meter ansteigen, zusätzlich zum globalen
Meeresspiegelanstieg durch die Erderwärmung. Die CO2-Aufnahme durch den Ozean, der uns im Moment etwa ein Viertel unserer globalen CO2-Emissionen abnimmt, würde sich verringern. Es würde die tropischen Niederschlagsgürtel nach Süden verschieben, weil die Nordhemisphäre insgesamt kälter würde. Der thermische Äquator, der jetzt ein paar Grad nördlich des geografischen Äquators liegt, würde auf den geografischen zurück rücken, und die Niederschläge wären nicht mehr da, wo man es gewohnt ist, wo die tropischen Regenwälder sind. Direkt betroffen sind natürlich auch die gesamten Meeresökosysteme, die Fischerei im Nordatlantik.
In Österreich gibt es keine Küsten, was würde es für die Menschen hier konkret bedeuten?
Die Wetterverhältnisse werden sehr unvorhersehbar. Wenn wir eine regionale starke Abkühlung kriegen, sich aber rundherum der Planet erwärmt, wird das nie gekannte Wetterextreme mit sich bringen. Ansonsten ist man in Österreich natürlich besser positioniert als in Skandinavien. Zumindest
was dieses spezielle Teilproblem der Klimakrise angeht.
Manche beklagen einen überzogenen Alarmismus bezüglich der Studie. Ist Alarmismus angebracht?
Alarmismus heißt ja, dass man die Risiken übertreibt, und das ist nie angebracht. Man kann sicher manchen Medienberichten Alarmismus vorwerfen, wenn in ihnen vorhergesagt wird, dass der Golfstrom demnächst abreißt. So ist es eben nicht. Wir reden hier über ein Risiko mit moderater Eintrittswahrscheinlichkeit, aber mit so verheerenden Folgen, dass es auf jeden Fall sehr ernst genommen werden muss. Es ist die Pflicht der Klimawissenschaftler, über solche Risiken, in die wir hineinlaufen mit jedem Zehntelgrad weiterer Erwärmung, zu informieren.
Was wäre denn die Pflicht von Politikern? Was kann man diesem Risiko entgegensetzen?
Die politische Konsequenz daraus ist letztlich nur das, was man ohnehin beschlossen hat, nämlich das Pariser Abkommen, auch wirklich konsequent umzusetzen. Das tun leider die wenigsten Staaten. In Deutschland schaffen wir es nicht einmal, eine Gratismaßnahme wie ein allgemeines Tempolimit einzuführen, weltweit wird die fossile Energienutzung massiv subventioniert. Das ist Irrsinn. Wir laufen in unkalkulierbare Risiken und subventionieren praktisch noch unseren drohenden Untergang.
Die Atlantikströmung ist schon mehrfach in der Erdgeschichte zusammengebrochen. Würde sie sich diesmal wieder erholen?
Sie würde sich grob gesagt in 1000 Jahren wieder erholen, wenn sie es überhaupt tut. Was die Modellsimulationen auch zeigen: Wenn sie dann wieder anspringt, dann passiert das noch schneller und katastrophaler als das Versiegen.
„Der letzte Aufguss“:
Im Klimapodcast der „Presse“spricht unter anderem Stefan Rahmstorf über den möglichen Kollaps des Golfstroms. Mehr dazu: diepresse.com/podcast