Japan überwindet
Erstmals seit über 34 Jahren hat der japanische Leitindex Nikkei ein neues Rekordhoch erreicht. Diesmal könnte der Höhenflug nachhaltig sein.
Tokio/Wien. Das japanische Beispiel gilt als Schreckensszenario für Aktionäre, als Warnung, dass es keineswegs garantiert ist, dass auf jede Krise ein neuer Rekord folgt. Doch nun ist genau das nach mehr als 34 Jahren endlich passiert: Der japanische Leitindex Nikkei 225 hat mit 39.098,68 Punkten ein neues Rekordhoch erreicht und das aus dem Jahr 1989 in den Schatten gestellt. Zuletzt half dem Index auch ein wenig der schwache Yen, der seit Jahresanfang um sechs Prozent zum Dollar nachgegeben hat.
Bestperformer seit Jahresbeginn ist Screen Holdings, ein Anlagenbauer für die Halbleiter- und Elektronikindustrie, mit einem Kursplus von 66 Prozent, gefolgt vom Elektrogeräte-Hersteller Fujikura und dem Energietechnik-Konzern Fuji Electric. Mit einem durchschnittlichen Kurs-Gewinn-Verhältnis von 22,5 auf Basis der erwarteten Gewinne sind japanische Aktien zwar nicht billig, aber von einer Blase doch weit entfernt.
Goldgräberstimmung
Vor 35 Jahren war das anders: Als der Nikkei im Dezember 1989 einen Höchststand bei 38.957 Punkten erreicht hatte, war der Börsenwert aller japanischen Firmen höher als der der US-Unternehmen. Viele dachten, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis Japan die USA als weltgrößte Wirtschaftsmacht ablösen würde. Binnen eines Jahrzehnts hatte Japans Wirtschaft damals den Umstieg von einer herkömmlichen Industriegesellschaft zu einer Hochtechnologiegesellschaft geschafft. Die Anleger waren fasziniert von der sich anbahnenden Technologieführerschaft des ostasiatischen Landes. Unternehmen wie Sony, Sharp oder Nintendo waren das, was heute die großen US-amerikanischen Technologiekonzerne Apple, Google oder Amazon sind, nur höher bewertet.
Auch im Land selbst herrschte Goldgräberstimmung. Kredite wurden aufgenommen, die Immobilienpreise schossen in die Höhe,
Aktien wurden gekauft. Der Nikkei kletterte in vier Jahren von 12.000 auf fast 39.000 Punkte. 1989 kosteten japanische Aktien das Sechzigfache ihres Jahresgewinns, einzelne Papiere waren noch wesentlich teurer. Die Bank of Japan erkannte die Gefahr einer Blasenbildung – und erhöhte die Zinsen. Diese Reaktion kam erstens zu spät und fiel zweitens zu heftig aus. Es folgten zwei Jahrzehnte, die von Stagnation und Deflation geprägt waren. Der Nikkei fiel in mehreren Etappen um mehr als 80 Prozent, begleitet von trügerischen Zwischenerholungen. Das Tief sollte erst im Jahr 2009 bei knapp über 7000 Punkten erreicht werden.
Danach ging es langsam nach oben. Doch erst vor etwa zehn Jahren kam die japanische Börse wieder so richtig in Schwung, beflügelt durch die lockere Geld- und Fiskalpolitik unter der Regierung Shinzō Abe. Der Leitzins liegt noch immer bei minus 0,1 Prozent. Zum Vergleich: In den USA liegt er in der Spanne zwischen 5,25 und 5,50 Prozent, in Europa bei 4,5 Prozent. Zinserhöhungen gelten als bremsend für die Aktienmärkte.
Doch anders als 1989 gibt es für die japanische Notenbank derzeit keinen Anlass, die Zinsen allzu stark anzuheben. Auch sonst stehen die Chancen gut, dass der
Höhenflug diesmal nachhaltiger ist. Ein Grund sei die Aussicht auf Lohnerhöhungen, schreibt Thomas Page Lecuyer von Ofi Invest in einem Marktausblick. Die Erwerbsbevölkerung schrumpft, was Arbeitnehmer in eine bessere Verhandlungsposition bringt. Höhere Löhne könnten wiederum den Konsum und die Binnennachfrage ankurbeln.
Risiko US-Geldpolitik
Auch hätten Japans Unternehmen den Umgang mit ihren Aktionären in den vergangenen Jahren massiv verbessert, die Transparenz und das Vertrauen der Anleger erhöht. Im Tourismus gebe es eine Erholung nach der coronabedingten Zurückhaltung. Japans Regierung fördere gezielt den Halbleiter-, Elektrofahrzeuge- und Künstliche-Intelligenz-Sektor durch Steuererleichterungen. Der Experte sieht auch Risiken, etwa die negativen Folgen einer möglichen weltweiten Konjunkturflaute auf die exportstarke Wirtschaft, einen Abschwung in China oder eine lockerere US-Geldpolitik, die den Yen zum Dollar wieder steigen lassen könnte. Der Yen steht jetzt übrigens in etwa wieder dort, wo er vor 35 Jahren war. Zwischendurch war er schon deutlich höher gewesen.
Als warnendes Beispiel werden die vergangenen Jahrzehnte dennoch in die Börsengeschichte eingehen: Anleger tun gut daran, ihr Vermögen breit über mehrere Branchen und Regionen zu streuen, auch wenn eine davon besonders verlockend erscheint.