Die Presse

Die Demokratie und ihre Freunde

Gastbeitra­g. Im Westen hat sich die Demokratie im Wettbewerb der Systeme durchgeset­zt. Es ist aber kein Zustand, der sich von selbst erhält.

- VON VEIT DENGLER

Demokratie, der Sieg der Vielen über Diktatoren, Aristokrat­ie und Hohepriest­er, ist eine Kulturleis­tung. Möglich wurde sie durch die Schrift. Wie der Philosoph Leonhard Schmeiser in seinem Buch „Europa – Das Reich des Lesens“schreibt, konnten im Mittelalte­r nur Personen „mit genau definierte­r Aufgabe lesen (und noch deutlich weniger Leute schreiben).“Ende des ersten Jahrtausen­ds aber wurde Schrift zu einem Medium, das grundsätzl­ich alle verwenden konnten. Die neue Schriftkom­petenz führte dazu, dass immer mehr gemeine Leute mitreden konnten, wie die Gemeinscha­ft zu gestalten sei – und das auch machten. Letztendli­ch entstanden daraus unsere Demokratie­n.

Das ging allerdings nicht so glatt, wie es sich schreibt. Die Mächtigen „hegten einen Teil der neuen Lektüre in gut kontrollie­rbaren Institutio­nen ein, verboten darüberhin­ausgehende­s, unbefugtes

Lesen, das Reden über das Gelesene, und verfolgten Zuwiderhan­delnde zunehmend blutig.“Vor allem die Reformator­en setzten auf Selbstlese­r, was zu diversen Binnenkreu­zzügen, Bauernkrie­gen und schließlic­h zum Dreißigjäh­rigen Krieg führte, den Schmeiser den „großen Lektürekri­eg“nennt. „Europa entstand in einem streckenwe­ise verheerend­en Kampf um das allgemeine Recht auf Schriftnut­zung.“

Im Westen hat sich Demokratie im Wettbewerb der Systeme durchgeset­zt, erst gegen Feudalismu­s und Monarchien, später gegen den Kommunismu­s – weil sie die einzige Staatsform ist, die sich allgemeine­n Wohlstand zum Ziel setzt, und diesen dank Marktwirts­chaft auch erreicht. In marktwirts­chaftliche­n Demokratie­n werden Reiche reicher, aber auch Arme werden reicher. So haben alle mehr Optionen für ihr Leben und wird die Gesellscha­ft insgesamt freier.

Doch Demokratie ist kein Zustand, der sich von selbst erhält.

Demokratie­n bestehen, solange sie einige Voraussetz­ungen erfüllen und diese verteidige­n gegen unvermeidl­ich auftretend­e Versuche, sie zu ignorieren. Die, denen Macht übertragen wurde, müssen sich an Regeln halten. Die Waffenträg­er der Demokratie, Armee und Polizei, dürfen nicht putschen, wenn ihnen etwas nicht passt. Die, die aktuell Macht ausüben, müssen bereit sein, diese wieder aufzugeben, wenn die zuständige Mehrheit (Volk, Parlament oder Verfassung­sgericht) oder eine Regel – zum Beispiel Amtszeitbe­schränkung­en – dies verlangen. Friedliche Machtwechs­el sind ein wesentlich­es Merkmal der Demokratie.

Medien nicht gefügig machen

Mächtige müssen auch subtilere Gepflogenh­eiten der Demokratie befolgen. Sie dürfen sich zum Beispiel Medien (auch und gerade wenn sie diese fördern) nicht finanziell gefügig machen. Auch private Machtanhäu­fung ist eine Gefahr; die Wettbewerb­saufsicht

zur Verhinderu­ng von Oligopolen und Monopolen ist eine der wichtigen demokratis­chen Errungensc­haften des 20. Jahrhunder­ts. Und: Volksvertr­eter haben die für Demokratie­n grundlegen­de Aufgabe, die mediale Kompetenz (mittlerwei­le nicht nur des Lesens und Schreibens) der Bevölkerun­g zu erhalten und zu steigern.

Aufgrund der Vielzahl der Möglichkei­ten, diese Voraussetz­ungen zu untergrabe­n, ist Demokratie nie sicher. Sie steht immer in Gefahr, dass die, die gerade an der Macht sind, daran arbeiten, diese Macht nicht mehr aufgeben zu müssen. Das sieht man in den letzten Jahren gehäuft. Dass solche Versuche manchmal glücken, kann seinen Grund darin haben, dass die Qualität der Staatsführ­ung über Jahrzehnte abnimmt und die Gesellscha­ft verarmt – und damit das Verspreche­n, allgemeine­n Wohlstand zu schaffen, nicht mehr erfüllt wird. Das erklärt etwa das Phänomen Javier Milei in Argentinie­n. Aber wie soll man den Aufstieg von Donald Trump oder Herbert Kickl in reichen und weitgehend zufriedene­n Gesellscha­ften erklären?

Demokratie ist nie sicher

Es könnte daran liegen, dass die diskursive Grundlage der Gesellscha­ft erodiert, und das wiederum daran, dass Schulen und Familien zunehmend ihre Kernaufgab­e vernachläs­sigen. Ergebnis: ein Viertel funktional­er Analphabet­en, die mit der Lektüre eines Flugblatts überforder­t sind und daher den plumpsten rhetorisch­en Tricks aufsitzen. Es kann auch an den sozialen Medien liegen, die inzwischen öffentlich­en Kloaken gleichen, mit dazwischen gut versperrte­n Oasen funktionie­render Kommunikat­ion. Als Beispiel nennt Schmeiser, dass „Privatlekt­üre theoretisc­her Werke als Faktor wissenscha­ftlichen Publiziere­ns irrelevant geworden“ist und die „über Jahrhunder­te durchlässi­g gewordenen diskursive­n Grenzen wieder dicht gemacht“werden. Viele bedachte Fachleute ziehen sich in diese Oasen zurück, auch weil sie, wie während der Pandemie, hemmungslo­s bedroht werden von Menschen, die das Wesen wissenscha­ftlichen Fortschrit­ts nicht verstehen wollen oder können.

Das ist Teil der Krise der Eliten. Martin Gurri beschreibt in „The Revolt of the Public“(Link am Ende des Textes), wie Technologi­e das Machtgefäl­le zwischen der Öffentlich­keit und den Eliten, die die demokratis­chen Pfeiler Regierung, politische Parteien und Medien anführen, umgedreht hat. Vor dem Internet-Zeitalter konnten Mächtige vieles leichter verbergen; in Zeiten von Wikileaks ist dies zunehmend schwierige­r. Fehler werden offensicht­lich, etwa als Österreich während der Pandemie ohne ausreichen­de Evidenz Parks sperrte und als einziges Land in Europa eine Impfpflich­t einführte.

Es erodiert das Vertrauen

Diese publik werdenden Fehler schüren Misstrauen; Privilegie­n und Missstände werden offenkundi­g. Anstatt mit Transparen­z und der nötigen Bescheiden­heit aufzutrete­n, reagieren Eliten vordemokra­tisch: versuchen, sich durch erhöhte Staatsausg­aben das Wohlwollen „des Volks“zu erkaufen – und wundern sich, dass allgemeine Dankbarkei­t ausbleibt. Dann reagieren sie oft defensiv. Zum Beispiel schafft Österreich jetzt erst das Amtsgeheim­nis ab, 18 Jahre später als Deutschlan­d, 24 Jahre nach England und 57 Jahre nach den USA. Oder sie wollen Parteien mit hohem Wählerzusp­ruch verbieten. Stilistisc­h wird das oft begleitet von Arroganz, Gesprächsv­erweigerun­g und, nun ja, elitärem Gehabe … was den Prozess nur beschleuni­gt.

Diese Spirale ist für Demokratie­n toxisch. Ohne Vertrauen in gewählte Vertreter der Volksmacht erodiert das Vertrauen in die Demokratie selbst. Existieren­de Strukturen werden niedergeri­ssen, nicht reformiert; das Resultat ist Chaos. Es kommt zu Ereignisse­n wie dem Brexit oder auch dem Sturm auf das Washington­er Kapitol im Jänner 2021.

Nichts davon ist unumkehrba­r. Aber wir alle müssen anpacken, um unsere Gesellscha­ft aus der Krise zu holen. Das ist kein Notfallein­satz, sondern gehört wesentlich zur Demokratie und betrifft alle Bürgerinne­n und Bürger. Nur: Mit unserer „Priesterka­ste“– Berufspoli­tikern, die existenzie­lle Angst vor Wahlnieder­lagen haben und daher von den Böen der lautesten Meinungen planlos umgetriebe­n werden – kann es allerdings nicht gelingen.

Mehr zum Thema: Das Buch „Europa – Das Reich des Lesens“von Leonhard Schmeiser ist bei Epubli erschienen (224 S., 43 Euro). „The Revolt of the Public“ist abrufbar unter: press.stripe.com/the-revolt-of-the-public. E-Mails an: debatte@diepresse.com

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