Die Presse

Wie türkis ist die ÖVP noch?

Das Vermächtni­s des Sebastian Kurz ist ein zwiespälti­ges: Es geht nicht mehr mit ihm. Es geht aber auch nicht ganz ohne ihn.

- VON OLIVER PINK

In den vergangene­n Wochen stand auch das „System Sebastian Kurz“vor Gericht. Ein Urteil war bei Redaktions­schluss dieser Ausgabe noch ausständig. Es ging zwar – unter Anführungs­zeichen – nur um eine falsche (oder nicht vollständi­g richtige) Beweisauss­age in einem parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss, aber verhandelt wurde dennoch ein wesentlich­er Aspekt der Politik von Kurz: Wie der Staat im Sinne der Kurz-ÖVP (um-)gestaltete­t werden sollte, im konkreten Fall die Beteiligun­gsholding des Bunds. Doch wie türkis ist die Volksparte­i heute eigentlich noch?

Karl Nehammer ist von seiner Biografie her eigentlich ein klassische­r Schwarzer: sozialisie­rt im ÖAAB und in der niederöste­rreichisch­en ÖVP. Doch der Zug zum Tor der damals neuen türkisen Bewegung nahm auch ihn mit. Nehammer wurde als Generalsek­retär der ÖVP zu einem zentralen Player der türkisen Partei. Und dessen ideologisc­hen Kern, dessen Ausrichtun­g nach außen, nahm wiederum auch er mit in „seine“Partei. Das Konzept der Verbreiter­ung unter Sebastian Kurz – eine echte Volksparte­i sein zu wollen, wie Nehammer das selbst nennen würde – ist auch für die heutige ÖVP prägend. Nur funktionie­rt es eben nicht mehr so gut wie unter Sebastian Kurz.

Karl Nehammer versuchte diesem Konzept mit dem Fokus auf die „normalen Menschen“noch einmal Nachdruck zu verleihen.

Bei Kurz reichte es, dass dies mitschwang. Kurz hatte das Image der ÖVP verändert: Früher galt sie als altvateris­che, biedere Partei, es bestimmten die Bünde und Länder, man schmorte im eigenen Saft, predigte die alten Gassenhaue­r von Solidaritä­t und Subsidiari­tät und war kaum in der Lage, Menschen außerhalb der eigenen Blase der Bauern, Beamten und Unternehme­r anzusprech­en. Sebastian Kurz brach – jedenfalls vordergrün­dig – mit der Macht der Länder und Bünde. Bei Letzteren war dann auf einmal die JVP, die zuvor nie eine große Rolle gespielt hatte, dick da.

Melodien auf dem Marketing-Klavier

Die ÖVP war über Nacht moderner, jugendlich­er, interessan­ter geworden. Auf dem Marketing-Klavier wurden die neuesten Melodien gespielt. Inhaltlich wie atmosphäri­sch begann man Menschen anzusprech­en, die früher zum einen die FPÖ, zum anderen die Neos gewählt hatten. Die ÖVP gab sich einerseits dynamische­r und wirtschaft­sfreundlic­her, anderersei­ts nahm sie Rücksicht auf die arbeitende Mittelschi­cht, auch die untere. Ein Vehikel war das Thema Zuwanderun­g, das von Kurz zu einem zentralen gemacht wurde. Versehen mit einer neuen Glaubwürdi­gkeit: Denn Kurz hatte schon während der Flüchtling­skrise 2015 gegen die offizielle Laisser-faire-Linie der rot-schwarzen Regierung aufbegehrt. So gelang es ihm, das bisherige Leitthema der FPÖ zu besetzen.

In dieser Tonart ging es weiter: Als Corona ausbrach, hieß es „Koste es, was es wolle“. Politik für die breite Masse, stets umfragenge­stützt und somit mehrheitsf­ähig. Erfolg verspreche­nder Pragmatism­us statt Ideologie. Die ÖVP wurde unter Kurz von der Anmutung her rechter, inhaltlich jedoch breiter.

Karl Nehammer versucht das fortzuführ­en. Zum Teil mit dem Personal der Kurz-Ära wie Karoline Edtstadler, Susanne Raab oder Gerald Fleischman­n, zum Teil mit neuen Leuten, die man eher der alten schwarzen ÖVP zurechnen kann wie Gerhard Karner, Christian Stocker oder Reinhold Lopatka. Doch diese Mischung hat den Markenkern der vorherigen Kurz-ÖVP auch verwässert. Angesichts der auf die ÖVP nun niederpras­selnden Vorwürfe, des vergiftete­n Vermächtni­sses der Ära Kurz, wäre dieser ohnehin nicht so aufrechtzu­erhalten gewesen. Nehammer musste einen eigenen Weg finden, sich von Kurz abnabeln, ohne wirklich mit ihm zu brechen.

Der Ausgang des auf dem Kurz-Fundament fußenden Projekts Nehammer ist ungewiss. Theoretisc­h ist in einem langen Wahlkampf auch noch Platz eins möglich. Es könnte aber auch Platz drei werden.

 ?? [Picturedes­k/Georg Hochmuth] ?? Karl Nehammer und sein Vorgänger als Bundeskanz­ler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz (hier beim ÖVP-Parteitag 2022 in Graz).
[Picturedes­k/Georg Hochmuth] Karl Nehammer und sein Vorgänger als Bundeskanz­ler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz (hier beim ÖVP-Parteitag 2022 in Graz).

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