„Russlands Rüstungssektor hat so viel Geld“
Mit ihrer nüchternen Datenanalyse gilt Natalja Subarewitsch als Star in Russlands Ökonomenszene. Wie das Land nach zwei Jahren Ukraine-Krieg dasteht und welche drei Faktoren alle unterschätzt haben, erzählt sie im Interview.
Die Presse: Erlauben Sie eine persönliche Frage: Wie haben zwei Jahre UkraineKrieg Ihr eigenes Leben verändert?
Natalja Subarewitsch: Ich hatte noch nie eine so lange Depression. Im Übrigen blieb alles gleich.
Auch wirtschaftlich alles gleich gut wie vorher?
Ich habe nicht gesagt gut. Es ist normal.
Was die Bevölkerung betrifft – hat sich ihre wirtschaftliche Situation durch Krieg und Sanktionen verändert?
Ja, grundlegend, aber sehr uneinheitlich. 2022 fielen die real verfügbaren Einkommen um 1,5 Prozent zurück. In den ersten drei Quartalen 2023 stiegen sie um 4,4 Prozent, haben also die Verluste überkompensiert.
Welcher Gruppe geht es jetzt besser?
Armen Familien mit Kindern. Seit März 2022 erhalten sie eine zusätzliche Beihilfe – zehn Millionen Kinder entkommen der Armut, und diese Hilfen werden weitergehen. Auch in den Familien der mobilgemachten Soldaten und Vertragssoldaten sind die Einkommen sprunghaft gestiegen, solche Löhne haben sie ihr Leben lang nicht gesehen. Und bei denen, die in der Rüstungsindustrie arbeiten, stiegen die Löhne schon im Herbst 2022 um 100 bis 150 Prozent. Das treibt die Löhne auch in anderen Unternehmen.
Aber irgendwer wird auch verloren haben.
Die Löhne der Staatsangestellten stiegen langsamer als die Inflation. Freie Selbstständige werden kaum mehr verdienen. Bei Unternehmern aber ist es besser geworden.
Viele Russen haben also jetzt mehr Geld. Was machen sie damit?
Sie gehen in Restaurants, weil sie manche Dinge nicht sehen und das Gefühl eines normalen Lebens haben wollen. Die
Russen essen und trinken ihre Probleme hinunter.
Und im Süden, wo die
Soldaten für den Ukraine-Einsatz stationiert sind, verzeichnete die
Gastronomie von 2021 bis 2023 ein Plus von teils 80 Prozent. Die Leute begannen zudem mehr zu reisen. Manch einer richtete sich die Zähne.
Wo läuft es nicht so rund?
Bei Autos etwa gibt es nur noch wenige aus dem Westen – sie sind sündteuer. An die chinesischen sind wir noch nicht gewöhnt.
Wenn wir uns die Sektoren ansehen: Wo wirken sich Sanktionen und die neuen Bedingungen am meisten aus?
In der Autoindustrie – in Kaliningrad etwa fiel deshalb die gesamte Industrieproduktion binnen zweier Jahre um 22 Prozent. Im Gassektor fiel sie 2023 um sieben Prozent, weil neue Käufer anstelle von Europa fehlen. Dann die Holzindustrie im Nordwesten, die auf den Export nach Europa ausgerichtet war. Die Umorientierung nach Osten ist logistisch nicht möglich. Die Transsibirische Eisenbahn ist ohnehin schon überlastet.
Transport und Logistik als Gewinner?
Es werden gigantische Summen investiert. Im Fernen Osten hat der Bausektor um 30 Prozent zugelegt – und das vor allem entlang der Eisenbahnen Transsib und Bam bis zum Pazifik, um die Kapazitäten zu erweitern. Dieser Trend wird anhalten, denn für Russland ist das jetzt eine Route des Lebens.
Die Industrieproduktion ging in der zweiten Hälfte 2023 allerdings in die Stagnation über. Warum?
Es ist eine Kapazitätsgrenze erreicht. Aber in der Rüstungsindustrie wird das Wachstum ziemlich sicher anhalten, denn die Verteidigungsausgaben steigen 2024 um 60 Prozent auf 10,8 Billionen Rubel (105 Milliarden Euro). Man wird die Löhne weiter erhöhen und sehr schnell neue Betriebe errichten. Der Rüstungssektor hat so viel Geld!
Zeichnen wir ein größeres Bild! Wie steht es heute um den Wohlstand, den die Russen in den Nullerjahren zum ersten Mal aufgebaut haben?
Es gibt den Wohlstand nicht. Von 2013 bis 2019 fielen die real verfügbaren Einkommen um sechs Prozent. Wir sind noch nicht zum Niveau von 2013 zurückgekehrt.
Der Wohlstand ist den Russen aber durch den außenpolitischen Bedeutungsgewinn auch offenbar weniger wichtig geworden. Der Soziologe Alexej Levinson formuliert die Mentalität so: „Wir leben schlecht, dafür aber sind wir ein mächtiges Land.“
Eine solche Haltung ist wirklich vorhanden. Ganz aktuell haben wir eine andere Phase: Die Leute wechseln den Arbeitsplatz öfter oder drohen das an, um einen noch höheren Lohn herauszuschlagen. Und die Arbeitgeber gehen da mit.
Hat der Westen bei den Sanktionen die Anpassungsfähigkeit der Russen unterschätzt?
Sollte es das Ziel gewesen sein, dem russischen Volk zu schaden, geht der Schuss nach hinten los, weil die Leute in eine Verteidigungshaltung gehen. Nicht das Volk hat die Spezialoperation in der Ukraine gestartet. Für die Bevölkerung war sie ein Schock.
Aber die Bevölkerung unterstützt sie.
Sie erduldet sie, schweigt, sagt, was man sagen soll. Und zu einem bedeutenden Teil unterstützt sie sie auch, zumal ihr lang erklärt wurde, dass der Westen gegen uns ist.
Ein Teil der ausländischen Firmen hat das Geschäft in Russland verkauft. Nun haben auch Besitzumverteilungen bei russischen Firmen begonnen. Beunruhigt Sie das?
Mir scheint, dass hier die Staatsanwaltschaft der Hauptmotor ist. Und es gibt ein großes privates Interesse von Leuten, die anderen etwas wegnehmen möchten. In Russland ist Eigentum ein relativer Begriff. Ich würde noch nicht sagen, dass das eine neue Strategie des Staates ist. Aber die Fälle sind mehr geworden.
Schaden die Russen sich am Ende selbst mehr, als es die Sanktionen je könnten?
Die Wegnahme eines Eigentums ist nicht vergleichbar mit dem Schaden durch die Sanktionen. Sie birgt aber ein anderes Risiko: Wozu soll ein Unternehmer gut arbeiten und investieren, wenn er jederzeit enteignet werden kann?
Sie kennen ja die wirtschaftliche Elite im Land. Wie sehr empfindet sie seit zwei Jahren ein Unbehagen aufgrund der neuen Situation?
Das weiß ich nicht. Ein normaler russischer Geschäftsmann wird nie mit einem Außenstehenden darüber reden. Sie haben die Zensur verinnerlicht. Vor einem Jahr sagten Sie in unserem Interview, dass man 2023 auf den schnellen Schwenk des russischen Außenhandels in Richtung China schauen soll, um zu verstehen, was in der Wirtschaft vor sich geht … … zu Recht. Heute deckt China schon fast 35 Prozent des gesamten russischen Außenhandels ab.
Auf welche Kennzahl soll man 2024 schauen?
Auf die Einnahmenseite des Budgets. Wird man es schaffen, so viele Einnahmen zu generieren, wie man an Ausgaben für Rüstung und Sozialprogramme geplant hat? Und sehen Sie auf die internationalen Statistiken zum Export russischen Öls und auf den dabei erzielten Preis. Für 2024 ist noch genug Geld da. Auch im Staatsfonds ist Geld.
Würden Sie es wagen, eine Prognose für die russische Wirtschaft über das Jahr 2024 hinaus abzugeben, oder gibt es zu viele unbekannte Faktoren?
Nein, das wage ich nicht. Wir alle haben große Fehler mit den Prognosen gemacht. Ihr Resümee zu den Sanktionen?
Wir alle haben drei Punkte unterschätzt. Erstens die Flexibilität der globalen Märkte bei vielen Produkten, weil die halbe Welt bei den Sanktionen nicht mitmacht. Wir haben zweitens die Zentralbank und das Finanzministerium unterschätzt, die schon vor zwei Jahren eine Panik vermeiden konnten. Und drittens die unglaubliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der russischen Unternehmen – nicht nur der privaten. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie diese Leute sich halten. Sie haben durch die vielen Krisen eine solche Kompetenz darin erworben, bei unbekannten Situationen sehr schnell zu verstehen, was zu tun ist. Würde man aus solchen Leuten Nägel machen, würde es wohl keine besseren Nägel auf der Welt geben, könnte man mit dem Schriftsteller Wladimir Majakowskij sagen.
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