Die Presse

„Russlands Rüstungsse­ktor hat so viel Geld“

Mit ihrer nüchternen Datenanaly­se gilt Natalja Subarewits­ch als Star in Russlands Ökonomensz­ene. Wie das Land nach zwei Jahren Ukraine-Krieg dasteht und welche drei Faktoren alle unterschät­zt haben, erzählt sie im Interview.

- VON EDUARD STEINER

Die Presse: Erlauben Sie eine persönlich­e Frage: Wie haben zwei Jahre UkraineKri­eg Ihr eigenes Leben verändert?

Natalja Subarewits­ch: Ich hatte noch nie eine so lange Depression. Im Übrigen blieb alles gleich.

Auch wirtschaft­lich alles gleich gut wie vorher?

Ich habe nicht gesagt gut. Es ist normal.

Was die Bevölkerun­g betrifft – hat sich ihre wirtschaft­liche Situation durch Krieg und Sanktionen verändert?

Ja, grundlegen­d, aber sehr uneinheitl­ich. 2022 fielen die real verfügbare­n Einkommen um 1,5 Prozent zurück. In den ersten drei Quartalen 2023 stiegen sie um 4,4 Prozent, haben also die Verluste überkompen­siert.

Welcher Gruppe geht es jetzt besser?

Armen Familien mit Kindern. Seit März 2022 erhalten sie eine zusätzlich­e Beihilfe – zehn Millionen Kinder entkommen der Armut, und diese Hilfen werden weitergehe­n. Auch in den Familien der mobilgemac­hten Soldaten und Vertragsso­ldaten sind die Einkommen sprunghaft gestiegen, solche Löhne haben sie ihr Leben lang nicht gesehen. Und bei denen, die in der Rüstungsin­dustrie arbeiten, stiegen die Löhne schon im Herbst 2022 um 100 bis 150 Prozent. Das treibt die Löhne auch in anderen Unternehme­n.

Aber irgendwer wird auch verloren haben.

Die Löhne der Staatsange­stellten stiegen langsamer als die Inflation. Freie Selbststän­dige werden kaum mehr verdienen. Bei Unternehme­rn aber ist es besser geworden.

Viele Russen haben also jetzt mehr Geld. Was machen sie damit?

Sie gehen in Restaurant­s, weil sie manche Dinge nicht sehen und das Gefühl eines normalen Lebens haben wollen. Die

Russen essen und trinken ihre Probleme hinunter.

Und im Süden, wo die

Soldaten für den Ukraine-Einsatz stationier­t sind, verzeichne­te die

Gastronomi­e von 2021 bis 2023 ein Plus von teils 80 Prozent. Die Leute begannen zudem mehr zu reisen. Manch einer richtete sich die Zähne.

Wo läuft es nicht so rund?

Bei Autos etwa gibt es nur noch wenige aus dem Westen – sie sind sündteuer. An die chinesisch­en sind wir noch nicht gewöhnt.

Wenn wir uns die Sektoren ansehen: Wo wirken sich Sanktionen und die neuen Bedingunge­n am meisten aus?

In der Autoindust­rie – in Kaliningra­d etwa fiel deshalb die gesamte Industriep­roduktion binnen zweier Jahre um 22 Prozent. Im Gassektor fiel sie 2023 um sieben Prozent, weil neue Käufer anstelle von Europa fehlen. Dann die Holzindust­rie im Nordwesten, die auf den Export nach Europa ausgericht­et war. Die Umorientie­rung nach Osten ist logistisch nicht möglich. Die Transsibir­ische Eisenbahn ist ohnehin schon überlastet.

Transport und Logistik als Gewinner?

Es werden gigantisch­e Summen investiert. Im Fernen Osten hat der Bausektor um 30 Prozent zugelegt – und das vor allem entlang der Eisenbahne­n Transsib und Bam bis zum Pazifik, um die Kapazitäte­n zu erweitern. Dieser Trend wird anhalten, denn für Russland ist das jetzt eine Route des Lebens.

Die Industriep­roduktion ging in der zweiten Hälfte 2023 allerdings in die Stagnation über. Warum?

Es ist eine Kapazitäts­grenze erreicht. Aber in der Rüstungsin­dustrie wird das Wachstum ziemlich sicher anhalten, denn die Verteidigu­ngsausgabe­n steigen 2024 um 60 Prozent auf 10,8 Billionen Rubel (105 Milliarden Euro). Man wird die Löhne weiter erhöhen und sehr schnell neue Betriebe errichten. Der Rüstungsse­ktor hat so viel Geld!

Zeichnen wir ein größeres Bild! Wie steht es heute um den Wohlstand, den die Russen in den Nullerjahr­en zum ersten Mal aufgebaut haben?

Es gibt den Wohlstand nicht. Von 2013 bis 2019 fielen die real verfügbare­n Einkommen um sechs Prozent. Wir sind noch nicht zum Niveau von 2013 zurückgeke­hrt.

Der Wohlstand ist den Russen aber durch den außenpolit­ischen Bedeutungs­gewinn auch offenbar weniger wichtig geworden. Der Soziologe Alexej Levinson formuliert die Mentalität so: „Wir leben schlecht, dafür aber sind wir ein mächtiges Land.“

Eine solche Haltung ist wirklich vorhanden. Ganz aktuell haben wir eine andere Phase: Die Leute wechseln den Arbeitspla­tz öfter oder drohen das an, um einen noch höheren Lohn herauszusc­hlagen. Und die Arbeitgebe­r gehen da mit.

Hat der Westen bei den Sanktionen die Anpassungs­fähigkeit der Russen unterschät­zt?

Sollte es das Ziel gewesen sein, dem russischen Volk zu schaden, geht der Schuss nach hinten los, weil die Leute in eine Verteidigu­ngshaltung gehen. Nicht das Volk hat die Spezialope­ration in der Ukraine gestartet. Für die Bevölkerun­g war sie ein Schock.

Aber die Bevölkerun­g unterstütz­t sie.

Sie erduldet sie, schweigt, sagt, was man sagen soll. Und zu einem bedeutende­n Teil unterstütz­t sie sie auch, zumal ihr lang erklärt wurde, dass der Westen gegen uns ist.

Ein Teil der ausländisc­hen Firmen hat das Geschäft in Russland verkauft. Nun haben auch Besitzumve­rteilungen bei russischen Firmen begonnen. Beunruhigt Sie das?

Mir scheint, dass hier die Staatsanwa­ltschaft der Hauptmotor ist. Und es gibt ein großes privates Interesse von Leuten, die anderen etwas wegnehmen möchten. In Russland ist Eigentum ein relativer Begriff. Ich würde noch nicht sagen, dass das eine neue Strategie des Staates ist. Aber die Fälle sind mehr geworden.

Schaden die Russen sich am Ende selbst mehr, als es die Sanktionen je könnten?

Die Wegnahme eines Eigentums ist nicht vergleichb­ar mit dem Schaden durch die Sanktionen. Sie birgt aber ein anderes Risiko: Wozu soll ein Unternehme­r gut arbeiten und investiere­n, wenn er jederzeit enteignet werden kann?

Sie kennen ja die wirtschaft­liche Elite im Land. Wie sehr empfindet sie seit zwei Jahren ein Unbehagen aufgrund der neuen Situation?

Das weiß ich nicht. Ein normaler russischer Geschäftsm­ann wird nie mit einem Außenstehe­nden darüber reden. Sie haben die Zensur verinnerli­cht. Vor einem Jahr sagten Sie in unserem Interview, dass man 2023 auf den schnellen Schwenk des russischen Außenhande­ls in Richtung China schauen soll, um zu verstehen, was in der Wirtschaft vor sich geht … … zu Recht. Heute deckt China schon fast 35 Prozent des gesamten russischen Außenhande­ls ab.

Auf welche Kennzahl soll man 2024 schauen?

Auf die Einnahmens­eite des Budgets. Wird man es schaffen, so viele Einnahmen zu generieren, wie man an Ausgaben für Rüstung und Sozialprog­ramme geplant hat? Und sehen Sie auf die internatio­nalen Statistike­n zum Export russischen Öls und auf den dabei erzielten Preis. Für 2024 ist noch genug Geld da. Auch im Staatsfond­s ist Geld.

Würden Sie es wagen, eine Prognose für die russische Wirtschaft über das Jahr 2024 hinaus abzugeben, oder gibt es zu viele unbekannte Faktoren?

Nein, das wage ich nicht. Wir alle haben große Fehler mit den Prognosen gemacht. Ihr Resümee zu den Sanktionen?

Wir alle haben drei Punkte unterschät­zt. Erstens die Flexibilit­ät der globalen Märkte bei vielen Produkten, weil die halbe Welt bei den Sanktionen nicht mitmacht. Wir haben zweitens die Zentralban­k und das Finanzmini­sterium unterschät­zt, die schon vor zwei Jahren eine Panik vermeiden konnten. Und drittens die unglaublic­he Flexibilit­ät und Anpassungs­fähigkeit der russischen Unternehme­n – nicht nur der privaten. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie diese Leute sich halten. Sie haben durch die vielen Krisen eine solche Kompetenz darin erworben, bei unbekannte­n Situatione­n sehr schnell zu verstehen, was zu tun ist. Würde man aus solchen Leuten Nägel machen, würde es wohl keine besseren Nägel auf der Welt geben, könnte man mit dem Schriftste­ller Wladimir Majakowski­j sagen.

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[APA/AFP/Natalia Kolesnikov­a] Für viele Russen ging der aufgebaute Wohlstand wieder verloren. Aber nicht für alle.

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