Bach und Schubert waren methodische Trendsetter
Der Satz ist so einprägsam wie herausfordernd: „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts“, meinte einst der österreichische Komponist und DDR-Hymnenschreiber Hanns Eisler. Auf dieses Zitat greift der Musikwissenschaftler und Philosoph Andreas Dorschel zurück, um deutlich zu machen, worum es ihm in seiner Forschung geht. „Wie alle Künste muss die Musik immer im Kontext gesehen werden, sie erschließt sich erst im Zusammenhang“, sagt der Leiter des Instituts für Musikästhetik der Kunst-Uni Graz. Während dieser Kontext in Literatur und in bildender Kunst naheliegender ist, könne man sich besonders bei Instrumentalmusik leicht der Illusion hingeben, dass „das eben nur Musik ist“.
In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt beschäftigt sich Dorschel aktuell gemeinsam mit drei Kolleginnen und Kollegen mit der spezifischen Rolle von Wissen in der Musik (Co-Leiter und Professor für Künstlerische Forschung Deniz Peters, Religionsund Musikwissenschaftlerin Férdia J. Stone-Davis und Ethnomusikologin Anna Rezaei).
Das Team interessiert sich unter anderem für die erkenntnistheoretische Kraft der musikalischen Praxis. Das dahinterstehende Konzept floriert international seit rund fünfzehn Jahren unter dem Namen Künstlerische Forschung (Artistic Research) und wurde nach und nach an verschiedenen Kunsthochschulen institutionalisiert. Im deutschsprachigen Raum nahm die Kunst-Uni Graz dabei eine Vorreiterrolle ein. Die Idee dahinter: Erkenntnisse können nicht nur durch Methoden der etablierten Wissenschaften erzeugt werden, sondern auch durch künstlerische Verfahrensweisen. „Es geht also nicht um Forschung über Kunst, sondern durch Kunst“, erklärt Dorschel. „Künstlerische Forschung ist aktuell ein Modefeld, und es ist naheliegend, dass die meisten, die hier aktiv sind, das Neueste vom Neuesten in der Kunst machen, weil Forschung immer innovativ sein muss.“Was er jedoch vermisse, sei die historische Tiefe. Denn: „Viele frühere Künstlerinnen und Künstler, die in der Tradition der europäischen Musik standen, hatten auch eine forschende Einstellung und wollten etwas herausfinden oder entdecken.“
Als Beispiele dafür nennt er Johann Sebastian Bach und Franz Schubert. So sei etwa Bachs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandenes „Wohltemperiertes Klavier“zu einer Zeit komponiert worden, in der die Stimmung (Temperierung) von Instrumenten viele Fragen aufgeworfen hatte. Damals konkurrierten verschiedene Möglichkeiten dafür, wobei bei der sogenannten temperierten Stimmung, einem Vorschlag des deutschen Musiktheoretikers Andreas Werckmeister, die Oktave in zwölf gleiche Halbtöne unterteilt wurde: Ein Cis (erhöhtes C) entspricht am Klavier dem Des (erniedrigtes D) – dasselbe Prinzip gilt für alle schwarzen Tasten. Das war vor allem praktisch, weil sich dadurch erübrigte, Tasteninstrumente umzustimmen, wenn ein Lied in einer anderen Tonart gespielt wurde, wie es bei der zuvor gängigen mitteltönigen Stimmung der Fall war.
„Bach probierte aus, was man mit dieser neuen Stimmung, in diesem neuen harmonischen Raum machen kann“, so Dorschel. „Im ,Wohltemperierten Klavier‘ gibt es entsprechend Präludien und Fugen in allen 24 Tonarten.“Diese Harmonik mit Dur und Moll hatte erst kurz davor die bis ins 16. Jahrhundert und darüber hinaus gültigen musikalischen Ordnungsprinzipien der Kirchentonarten abgelöst.
Woanders, nämlich außerhalb der Musik, liegt das Erkenntnisinteresse bei Franz Schuberts „Winterreise“(1827): „Der Liederzyklus ist eine radikale Auseinandersetzung mit der Frage: Wer bin ich? Er ist eine musikalische Exploration dessen, was es heißt, mit sich allein zu sein, mit dem Tod konfrontiert zu sein“, sagt der Grazer Forscher und verweist darauf, dass der Komponist gewusst haben dürfte, nicht mehr lang zu leben. „Selbsterkenntnis ist eine manchmal schmerzhafte Art von Wissen, weil man dabei mit Dingen konfrontiert wird, die man unter Umständen gar nicht erfahren wollte.“
Dorschels Kollegin Stone-Davis, die auch an der University of Cambridge tätig ist, taucht im Zuge des FWF-Projekts in die Musikgeschichte ein, um nach weiteren Beispielen von Komposition oder Performance zu suchen, die heute als Künstlerische Forschung verstanden würden. „Die historischen Fallstudien sollen das Feld von den modischen Aspekten wegbringen“, betont Dorschel. Parallel dazu untersucht die aus dem Iran stammende Forscherin Anne Rezaei in ihrem Projektteil Performances als Prozess, um Erkenntnis zu gewinnen. Sie bringt damit eine nichteuropäische Perspektive ein. Die Ethnomusikologin konzentriert sich auf das berühmte persische Nationalepos „Schāhnāme“(Buch der Könige) und davon inspirierte musikalisch-erzählerische Darbietungen (Naqqali). Das Repertoire reicht vom 19. Jahrhundert, als eine lange Tradition von den Kaffeehäusern auf die Bühne gebracht wurde, über postrevolutionäre Kontexte (nach 1979) bis hin zur heutigen Diaspora, wo zunehmend Frauen als Künstlerinnen auftreten. Im Fokus steht die Erkundung der persischen Identität.
„Wir versuchen, eine Systematizität in das Feld zu bringen und die Formen des Wissens in der Musik aufzuzeigen“, beschreibt Dorschel seinen Schwerpunkt im Projekt. Er charakterisierte bisher folgende Kategorien: Wissen der Komponistinnen und Komponisten, Wissen in den Kompositionen, Wissen von Musizierenden bzw. PerformanceKünstlerinnen und -Künstlern, Wissen der Hörenden und materielles bzw. institutionalisiertes Wissen (im Bau von Instrumenten oder Konzertsälen realisiert).