Eintritt für Kinder bis zu 25 Jahre frei
un, da die Demokratie auch in einigen großen Ländern des Westens für bedroht erachtet wird, verbringen wir viereinhalb Tage am Fuß der Akropolis. Die Vorstellungen meiner Kinder sind durch Märchen und Filme von Monarchien geprägt, von Kronen, Thronen, Palästen und Prinzessinnen. Wo, wenn nicht an den Ursprüngen der Athener Volksherrschaft, könnte ich ihnen die Vorzüge der Demokratie näherbringen?
Seit der Lektüre von Thukydides fasziniert mich das Lehrstück von Demokratie und Demagogie, das sich 415 v. Chr. auf der Athener Volksversammlung „Ekklesia“zutrug: Der „radikale Demokrat“Alkibiades – ein verführerischer Heerführer, Liebhaber und Redner, der später zu Athens Erzfeinden Sparta und Persien überlaufen sollte und am Ende von seiner Lieblingsprostituierten begraben wurde – brauchte offenbar nicht viel mehr als eine Rede, um das Volk für einen Krieg gegen Syrakus zu entflammen. Der „gemäßigte Demokrat“Nikias, Autor des Nikiasfriedens, suchte das verhängnisvolle Abenteuer abzuwenden, indem er einen enormen Truppenaufwand veranschlagte – was die kriegsgeile Masse freilich umgehend bewilligte. Ich wollte den Schauplatz dieser Rede, wegen der die Wildwuchsversion direkter Demokratie später reformiert wurde, sehen.
Auf dem Höhepunkt der Nebensaison wandern wir auf die Akropolis hinauf. Angenehm wenig Kommerz, Eintritt für Kinder bis zu 25 Jahre frei, oben ein Wasserspender. Das Publikum der Akropolis ist etwas vornehmer als an anderen Touri-Hotspots Europas. Leicht über die Stränge schlagen zwei Gruppen männlicher Teenager: Die eine Gruppe spricht Griechisch, die andere britisches Englisch, gekleidet sind sie genau gleich.
In der Endphase der Athener Demokratie wurde die Ekklesia im bis zu 25.000 Menschen fassenden Dionysostheater abgehal
Nten. Eigentlich „die Geburtsstätte des Dramas“, eigentlich „das ernste Theater der Welt“, konnte man die Demokratie als bloße Nebennutzung ansehen. Zumal heute nur Ausgrabungen des Kernbereichs zu sehen sind, wüsste ich nicht, wie ich den seelenruhig mit alten Steinen spielenden Kindern hier Demokratie zeige. Auch dank der Bilderbücher aus dem Neubau des Akropolis-Museums bleiben bei ihnen zunächst wieder vordemokratische Mythen wie Theseus und Herkules hängen: Dem Buben gehen die sieben Athener Buben und Mädchen nicht aus dem Kopf, mit denen Jahr für Jahr der in einem kretischen Kellerlabyrinth hausende Minotaurus gefüttert wurde.
Anderntags gehen wir auf die Agora. Für ihre Freilegung riss die „American School of Classical Studies“nach 1931 400 moderne Häuser ab, für ihre Instandhaltung zahlen heute Norwegen, Island und Liechtenstein mittels „EEA Grants“. Die Agora wurde im Lauf der Zeit zunehmend zugebaut, etwa mit dem Rundbau „Tholos“, in dem 50 jeweils 35 bis 36 Tage lang dienende Bürger rund um die Uhr eine Art Exekutivkomitee bildeten; ein Drittel der 50 hielt bei Nacht Bürgersprechstunde. In der Frühphase der Athener Demokratie soll sich die Ekklesia auf der Agora versammelt haben. Ich suche die genaue Stelle. Die zentral stehenden Statuen zweier kluger Redner entpuppen sich als Fiktion einer Begegnung von Sokrates und Konfuzius – 2021 ausgerechnet von einem Spitzenfunktionär der nicht allzu demokratischen Volksrepublik China hingestellt. Auch bei der möglicherweise zum Stoppen von Reden genutzten Wasseruhr, deren Tank für insgesamt 17 Stunden reichte, werde ich nicht fündig. Ein Wärter behauptet, die Ekklesia wäre nie auf der Agora abgehalten worden. Aus dem Rollenspiel der herumtollenden Kinder höre ich „zwei Könige“und „böse Hexe“heraus. Ich verschiebe meine Erklärungen zur Entwicklung der Athener Demokratie auf später.
Viereinhalb Tage lausche ich, welche Sprachen ich um die Akropolis höre. Für mich sticht in seiner Diversität nur eines hervor: Polnisch! Gesprochen von Familien und Studienräten, von Freundeskreisen stylisher junger Frauen und einer Klosterschwester gar. Zuletzt steigen wir auf die Pnyx hinauf. Das ist der lang gestreckte Hügel, auf dem die Abstimmungen der Ekklesia die längste Zeit durchgeführt wurden, von 508 bis 330 v. Chr. Problem: Von der interessantesten Phase I – in der etwa Alkibiades die begeisterten Bürger in den Krieg trieb – ist nichts zu sehen. Nur aus Phase III ist die monumentale, mehrstufig aus einem Felsbrocken herausgehauene Rednertribüne erhalten.
Auch auf der Pnyx sind wir nicht ganz richtig, dafür sind wir zeitweise allein. Obwohl wir uns in der Mitte einer Vier-Millionen-Megalopolis befinden, wähnen sich die Kinder in freier Natur und beginnen Blumen zu pflücken. Das macht mich so böse, dass die Einschulung in Demokratie bis heute auf sich warten lässt.
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