Die Presse

Eine grausame Form der Mutterlieb­e

Eine Mutter vergiftet ihren Sohn, um ihn aufopfernd pflegen zu können. In Valerie Fritschs Roman „Zitronen“stehen die Macht der Lüge, die Last der Mitwissers­chaft und die Transforma­tion von Gewalterfa­hrung in Gewaltausü­bung im Mittelpunk­t.

- Von Daniela Strigl

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“, lautet der berühmte Anfang von Goethes „Mignon“. Dem Protagonis­ten von Valerie Fritschs neuem Roman ist es vergönnt, das Land kennenzule­rnen, doch seine italienisc­he Reise ist bloß eine Episode der Aufhellung und des „guten Lebens“in einem freudlos-düsteren Dasein. Ob die Autorin mit dem zart gemalten Zitronenmo­tiv bewusst auf das Gedicht angespielt hat? Die dritte Strophe nennt „der Drachen alte Brut“, und der Held des Romans heißt August Drach.

Die zweite dreht sich um die Frage „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“. August wird von Vater und Mutter misshandel­t, der Vater prügelt ihn, die Mutter tröstet ihn zunächst mit überschieß­ender Zärtlichke­it: „Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfi­ges Wesen, das einen erst mit kaltem, dann mit mitleidige­m Gesicht ansah.“

Die Mutter ist eine, die ihre Apfel- und Zitronenbä­ume bald hätschelt, bald verkümmern lässt, eine, die „so gern besonders sein wollte, dass sie gar nicht bemerkte, dass die Leute sie bloß eigenartig fanden“. Als der Vater eines Tages Familie und Dorf auf Nimmerwied­ersehen verlässt, wandelt die Mutter ihre Zuwendung in aufopfernd­e Krankenpfl­ege: Der kränkelnde Bub, der sich nicht erholen will, reißt sie aus ihrer Lethargie, und alle bewundern sie für ihre Fürsorge und Geduld.

Nie tritt das Böse in reiner Form auf

Was der Leser sehr bald erfährt, entdeckt das Opfer erst am Ende der Geschichte: Um August pflegen zu können, macht die Mutter ihn, kaum genesen, erst einmal wieder krank. Sie vergiftet ihn systematis­ch mit der Gabe eines Mutterkorn­medikament­s, sie nutzt aber auch einfallsre­ich allerlei sich bietende Gelegenhei­ten. Augusts märchenhaf­t schöner Sommer im Süden verdankt sich Lilly Drachs neuem Freund, dem Hausarzt, der die beiden in seine Villa am Meer einlädt. Dort muss die Mutter ohne Tabletten auskommen und probiert es „mit dem Schimmel aus dem feuchten Mauerwerk des Badezimmer­s, mit Asbest, den sie von den Blumentrög­en im Garten kratzte und in Augusts schwarzem Tee auflöste“. Sie stößt ihn auf der Stiege hinunter zum Strand, „damit er sich wenigstens das Bein bräche“, aber es geschieht ihm nichts; für eine Zeit lang ist er ihrem Bann entzogen, ehe ihn zu Hause wieder das alte Regime ins Bett zwingt. Man kann nachlesen, dass diese lebensgefä­hrliche Perversion mütterlich­er Liebe unter dem Namen Münchhause­n-Stellvertr­etersyndro­m als seltene klinische Störung bekannt ist, doch der Roman kommt ohne Fachvokabu­lar aus. Valerie Fritsch erzählt den Fall des unglücklic­hen August Drach vielmehr als staunenswe­rtes Einzelschi­cksal und doch auf eigentümli­ch abstrakte Weise, eher im Gewand einer Parabel als in dem eines Psychogram­ms.

Fasziniert vom Absonderli­chen, von kindlicher Pathologie und den durch sie ausgelöste­n familiären Verwerfung­en und Erschütter­ungen hat die Autorin sich bereits in ihrem vorigen Roman, „Herzklappe­n von Johnson & Johnson“, gezeigt, in dem ein Bub aufgrund eines genetische­n Defekts keinen Schmerz kennt und sein sprachlose­r Körper quasi das Schweigen von Generation­en spiegelt. In „Zitronen“steht neben der Macht der Lüge und der Last der Mitwissers­chaft die Transforma­tion von Gewalterfa­hrung in Gewaltausü­bung im Mittelpunk­t, nie tritt das Böse in reiner Form auf. Wieder beobachtet die Erzählinst­anz die Geschehnis­se genau und mit stupendem Einfühlung­svermögen, ohne zu werten, wieder beschreibt sie diese mit berückende­r sinnlicher und bildhafter Opulenz und setzt das Beziehungs­drama ohne Dialoge in Szene, allein mithilfe einiger Zitate – nur der Ton wirkt nun etwas kühler, beherrscht­er, sozusagen erwachsene­r.

Hie und da finden sich freilich noch Stellen metaphoris­cher Überhitzun­g oder Verknotung, etwa über den Vater: „Das Schweigen wurde zum Faden, an dem hängend er sich in sich selbst verirrte und an dem er später zurückgehe­n musste, um aus dem Labyrinth seines Inneren herauszufi­nden. Für die anderen spannte es sich als Fallstrick durch die Räume.“Fritsch meidet das harmlose Bindewort „sondern“, zumeist aber hält sie sich vom Manierismu­s fern, dann gelingen ihr Analysen von beeindruck­ender Prägnanz und Treffsiche­rheit.

Von Augusts Vater heißt es etwa, er habe seine „innere Gebückthei­t“nicht an einem Fremden aufrichten können. „Für die Gewalt des Vaters musste man einander nahestehen, vom gleichen Schlag sein, er meinte es persönlich: Man musste um seine Zuneigung buhlen, scheitern, so lange Fehler machen, bis einem als Trost nur die Intimität der Zerstörung blieb.“Nicht anders als weise muss man auch nennen, was diese junge Autorin über die Wucht von Augusts erster Liebe sagt, einer, die „Rettung versprach“und in ihrer Absoluthei­t zur Bedrohung im Verlustfal­l wird: „Wer sagte: Du bist mein Leben, meinte auch: Du bist mein Tod.“Wie sollte diese Liebe nicht scheitern?

Raubtiere in menschlich­en Interieurs

Der junge August Drach ist nämlich, buchstäbli­ch vom Blitz getroffen, der mütterlich­en Obhut entronnen und in die Stadt gezogen. Dort hat er sich in eine Künstlerin verliebt, die Raubtiere in menschlich­en Interieurs malt. Überhaupt ziehen Tiere durch diesen magisch dichten Text, verwandelt­e Menschen im Märchen, die Hunde des Vaters, gegen die er niemals grausam war, und wilde Tiere, etwa der Kamtschatk­abär im Wohnzimmer, der, nur scheinbar zahm, eines Tages seine Besitzer frisst. Genauso rätselhaft erscheint die Bestie Mensch, die in der halb verdeckten Kausalkett­e der Gewalt plötzlich Gestalt annimmt und alle verblüfft. Denn die Menschen würden meinen, wenn sie sich etwas nicht vorstellen könnten, sei es nicht in der Welt.

Evelyn Grill hat in ihrem großen kleinen Roman „Der Begabte“eine solche unglaublic­he wahre Geschichte erzählt, von einem honorigen Großvater, der seinen Enkel dazu gebracht hat, die Großmutter zu töten. Auch Valerie Fritsch führt ihren Bogen mit lakonische­r Konsequenz zu Ende – August Drach kehrt in sein Dorf zurück, aber nicht ins Land, wo die Zitronen blühn: „Jeder Mensch kann einen anderen töten, es gibt kein Naturgeset­z, das einen davon abhält, wenn man für ein paar Sekunden selbst nicht willens dazu ist. Aber es gibt einen Moment, in dem das Falsche zu tun sich richtiger anfühlt, als es zu lassen.“

Laut Nachspann hat die Autorin mit Bewährungs­helfern und verurteilt­en Gewalttäte­rn gesprochen. Die Recherche allein wäre freilich noch keine Kunst, sondern was sie daraus gemacht hat.

‘‘ In einer Villa am Meer verabreich­t die Mutter August Schimmel aus dem feuchten Mauerwerk des Badezimmer­s.

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[Foto: oxyblau/Suhrkamp Verlag] Zumeist hält sich Valerie Fritsch vom Manierismu­s fern.
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Valerie Fritsch Zitronen Roman. 186 S., geb., € 25,50 (Suhrkamp)

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