Eine grausame Form der Mutterliebe
Eine Mutter vergiftet ihren Sohn, um ihn aufopfernd pflegen zu können. In Valerie Fritschs Roman „Zitronen“stehen die Macht der Lüge, die Last der Mitwisserschaft und die Transformation von Gewalterfahrung in Gewaltausübung im Mittelpunkt.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“, lautet der berühmte Anfang von Goethes „Mignon“. Dem Protagonisten von Valerie Fritschs neuem Roman ist es vergönnt, das Land kennenzulernen, doch seine italienische Reise ist bloß eine Episode der Aufhellung und des „guten Lebens“in einem freudlos-düsteren Dasein. Ob die Autorin mit dem zart gemalten Zitronenmotiv bewusst auf das Gedicht angespielt hat? Die dritte Strophe nennt „der Drachen alte Brut“, und der Held des Romans heißt August Drach.
Die zweite dreht sich um die Frage „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“. August wird von Vater und Mutter misshandelt, der Vater prügelt ihn, die Mutter tröstet ihn zunächst mit überschießender Zärtlichkeit: „Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einen erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah.“
Die Mutter ist eine, die ihre Apfel- und Zitronenbäume bald hätschelt, bald verkümmern lässt, eine, die „so gern besonders sein wollte, dass sie gar nicht bemerkte, dass die Leute sie bloß eigenartig fanden“. Als der Vater eines Tages Familie und Dorf auf Nimmerwiedersehen verlässt, wandelt die Mutter ihre Zuwendung in aufopfernde Krankenpflege: Der kränkelnde Bub, der sich nicht erholen will, reißt sie aus ihrer Lethargie, und alle bewundern sie für ihre Fürsorge und Geduld.
Nie tritt das Böse in reiner Form auf
Was der Leser sehr bald erfährt, entdeckt das Opfer erst am Ende der Geschichte: Um August pflegen zu können, macht die Mutter ihn, kaum genesen, erst einmal wieder krank. Sie vergiftet ihn systematisch mit der Gabe eines Mutterkornmedikaments, sie nutzt aber auch einfallsreich allerlei sich bietende Gelegenheiten. Augusts märchenhaft schöner Sommer im Süden verdankt sich Lilly Drachs neuem Freund, dem Hausarzt, der die beiden in seine Villa am Meer einlädt. Dort muss die Mutter ohne Tabletten auskommen und probiert es „mit dem Schimmel aus dem feuchten Mauerwerk des Badezimmers, mit Asbest, den sie von den Blumentrögen im Garten kratzte und in Augusts schwarzem Tee auflöste“. Sie stößt ihn auf der Stiege hinunter zum Strand, „damit er sich wenigstens das Bein bräche“, aber es geschieht ihm nichts; für eine Zeit lang ist er ihrem Bann entzogen, ehe ihn zu Hause wieder das alte Regime ins Bett zwingt. Man kann nachlesen, dass diese lebensgefährliche Perversion mütterlicher Liebe unter dem Namen Münchhausen-Stellvertretersyndrom als seltene klinische Störung bekannt ist, doch der Roman kommt ohne Fachvokabular aus. Valerie Fritsch erzählt den Fall des unglücklichen August Drach vielmehr als staunenswertes Einzelschicksal und doch auf eigentümlich abstrakte Weise, eher im Gewand einer Parabel als in dem eines Psychogramms.
Fasziniert vom Absonderlichen, von kindlicher Pathologie und den durch sie ausgelösten familiären Verwerfungen und Erschütterungen hat die Autorin sich bereits in ihrem vorigen Roman, „Herzklappen von Johnson & Johnson“, gezeigt, in dem ein Bub aufgrund eines genetischen Defekts keinen Schmerz kennt und sein sprachloser Körper quasi das Schweigen von Generationen spiegelt. In „Zitronen“steht neben der Macht der Lüge und der Last der Mitwisserschaft die Transformation von Gewalterfahrung in Gewaltausübung im Mittelpunkt, nie tritt das Böse in reiner Form auf. Wieder beobachtet die Erzählinstanz die Geschehnisse genau und mit stupendem Einfühlungsvermögen, ohne zu werten, wieder beschreibt sie diese mit berückender sinnlicher und bildhafter Opulenz und setzt das Beziehungsdrama ohne Dialoge in Szene, allein mithilfe einiger Zitate – nur der Ton wirkt nun etwas kühler, beherrschter, sozusagen erwachsener.
Hie und da finden sich freilich noch Stellen metaphorischer Überhitzung oder Verknotung, etwa über den Vater: „Das Schweigen wurde zum Faden, an dem hängend er sich in sich selbst verirrte und an dem er später zurückgehen musste, um aus dem Labyrinth seines Inneren herauszufinden. Für die anderen spannte es sich als Fallstrick durch die Räume.“Fritsch meidet das harmlose Bindewort „sondern“, zumeist aber hält sie sich vom Manierismus fern, dann gelingen ihr Analysen von beeindruckender Prägnanz und Treffsicherheit.
Von Augusts Vater heißt es etwa, er habe seine „innere Gebücktheit“nicht an einem Fremden aufrichten können. „Für die Gewalt des Vaters musste man einander nahestehen, vom gleichen Schlag sein, er meinte es persönlich: Man musste um seine Zuneigung buhlen, scheitern, so lange Fehler machen, bis einem als Trost nur die Intimität der Zerstörung blieb.“Nicht anders als weise muss man auch nennen, was diese junge Autorin über die Wucht von Augusts erster Liebe sagt, einer, die „Rettung versprach“und in ihrer Absolutheit zur Bedrohung im Verlustfall wird: „Wer sagte: Du bist mein Leben, meinte auch: Du bist mein Tod.“Wie sollte diese Liebe nicht scheitern?
Raubtiere in menschlichen Interieurs
Der junge August Drach ist nämlich, buchstäblich vom Blitz getroffen, der mütterlichen Obhut entronnen und in die Stadt gezogen. Dort hat er sich in eine Künstlerin verliebt, die Raubtiere in menschlichen Interieurs malt. Überhaupt ziehen Tiere durch diesen magisch dichten Text, verwandelte Menschen im Märchen, die Hunde des Vaters, gegen die er niemals grausam war, und wilde Tiere, etwa der Kamtschatkabär im Wohnzimmer, der, nur scheinbar zahm, eines Tages seine Besitzer frisst. Genauso rätselhaft erscheint die Bestie Mensch, die in der halb verdeckten Kausalkette der Gewalt plötzlich Gestalt annimmt und alle verblüfft. Denn die Menschen würden meinen, wenn sie sich etwas nicht vorstellen könnten, sei es nicht in der Welt.
Evelyn Grill hat in ihrem großen kleinen Roman „Der Begabte“eine solche unglaubliche wahre Geschichte erzählt, von einem honorigen Großvater, der seinen Enkel dazu gebracht hat, die Großmutter zu töten. Auch Valerie Fritsch führt ihren Bogen mit lakonischer Konsequenz zu Ende – August Drach kehrt in sein Dorf zurück, aber nicht ins Land, wo die Zitronen blühn: „Jeder Mensch kann einen anderen töten, es gibt kein Naturgesetz, das einen davon abhält, wenn man für ein paar Sekunden selbst nicht willens dazu ist. Aber es gibt einen Moment, in dem das Falsche zu tun sich richtiger anfühlt, als es zu lassen.“
Laut Nachspann hat die Autorin mit Bewährungshelfern und verurteilten Gewalttätern gesprochen. Die Recherche allein wäre freilich noch keine Kunst, sondern was sie daraus gemacht hat.
‘‘ In einer Villa am Meer verabreicht die Mutter August Schimmel aus dem feuchten Mauerwerk des Badezimmers.