Die Presse

„Wir müssen die Naivität ablegen“

Martin Sajdik, österreich­ischer Diplomat und Ex-OSZE-Chefvermit­tler, erklärt, warum es keine einfachen Lösungen im russisch-ukrainisch­en Krieg gibt und warum die lange Front ein Problem für jede Friedensmi­ssion ist.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Presse: Sie haben ein halbes Jahrzehnt, von 2015 bis 2020, für eine Konfliktlö­sung im Donbass gearbeitet. Wie blicken Sie aus heutiger Sicht darauf zurück? War es verlorene Zeit?

Martin Sajdik: Nein, es war keine verlorene Zeit. Natürlich versucht man, seine eigene Tätigkeit immer zu beschönige­n. In meiner Zeit gab es zum Glück immer weniger zivile Opfer. 2019 ist in diesem bewaffnete­n Konflikt kein Kind umgekommen. Wir haben es geschafft, dass die Zivilbevöl­kerung weniger leidet. Wir haben die Schandbrüc­ke von Stanyzja Luhanska renovieren lassen, damit die Pensionist­en vom Separatist­engebiet hinübergeh­en konnten, um auf der ukrainisch­en Seite ihre Pensionen zu erhalten. In diesen Punkten haben wir etwas erreicht. Aber natürlich habe ich auch gemischte Gefühle.

Welche sind das?

Die Umsetzung der Minsker Vereinbaru­ngen ist uns nicht gelungen. Wir konnten den Konflikt nicht lösen. Die Gründe dafür sind auf beiden Seiten zu suchen, wenn auch nicht zu gleichen Teilen.

Russland hat die Minsker Vereinbaru­ngen als Vehikel betrachtet, sich den Zugriff auf die Ukraine zu sichern. Als das nicht mehr ging, kam es zur Eskalation.

Im Nachhinein ist man immer klüger. Als ich im Juli 2015 das erste Mal nach Minsk zu den Verhandlun­gen kam, holte mich ein guter belarussis­cher Bekannter ab. Beim Abendessen sagte er zu mir: „Du bist ein Narr. Was willst du in dieser Position erreichen? Die Russen werden Donezk und Luhansk niemals mehr hergeben.“So begann ich meine Tätigkeit.

Ab wann hat sich Kreml-Chef Putin für den Krieg entschiede­n?

Ich habe darauf noch immer keine Antwort. Meine Nachfolger­in, Heidi Grau, hat im Juli 2020, am Höhepunkt der Covid-Phase, den längst haltenden Waffenstil­lstand geschlosse­n. Was zwischen dem Waffenstil­lstand und Putins UkraineArt­ikel vom Juli 2021 passierte, ist mir bis heute ein Rätsel. Putin ist in irgendeine­r Weise der Kragen geplatzt. Er hat verstanden, dass sich der ukrainisch­e Präsident Wolody

myr Selenskij nicht über den Tisch ziehen lässt?

Er fürchtete wohl, dass Moskau nur noch diese Gebiete hat und der Einfluss auf die Ukraine immer schwächer wird. Selenskij war ein starker Präsident, gewählt mit einer unglaublic­hen Mehrheit. Anderersei­ts hatte sich ja weder eine Nato- noch eine EU-Mitgliedsc­haft der Ukraine abgezeichn­et. Diese Dynamik entwickelt­e sich ja erst nach dem 24. Februar 2022.

Die Russen denken in langen Zügen.

Ich empfehle allen Lesern das Buch des deutschen Historiker­s Martin Schulze Wessel „Der Fluch des Imperiums“. Es zeigt die langfristi­gen Determinan­ten der russischen Politik auf. Der Titel hat einen Doppelsinn: Es ist auch für Russland ein Fluch, dass es das größte Land der Erde ist und seine Bevölkerun­gsgröße nicht der Größe des Territoriu­ms entspricht. Im Interview mit Tucker Carlson sprach Putin davon, dass Russland 150 Millionen Einwohner habe – statt früher 144 Millionen. Er hat die Menschen aus den „neuen Gebieten“der Ukraine wohl schon eingepreis­t. Wobei man sich fragt, ob da wirklich noch sechs Millionen leben. Es gibt einen Terminus, der in der russischen internen Diskussion immer wieder vorkommt. Das ist „Genofond“, der Genpool. Das gibt es in keinem anderen europäisch­en Land. In meinen Augen steckt dahinter die Problemati­k, dass Russland über eine zu geringe Einwohnerz­ahl verfügt, um der Großmachtr­olle, die es aufgrund der Größe des Landes einfach hat, gerecht werden zu können. Ein Land von 17,1 Millionen Quadratkil­ometern. Braucht es noch ein paar Zehntausen­d zusätzlich­e Quadratkil­ometer? Wohl nicht, aber vielleicht einige zusätzlich­e Millionen Einwohner.

Immer wieder ist von angebliche­n Gesprächsa­ngeboten Putins an den Westen die Rede. Wie ernst soll man das nehmen?

Russlands Vorstellun­g ist ein Siegfriede­n, wie Gerhard Mangott so treffend gesagt hat. Schon in Istanbul im Frühling 2022 scheiterte ein Abkommen an den Sicherheit­sgarantien, und nicht wie die KremlPropa­ganda nun behauptet, an der Interventi­on von Boris Johnson. Sicherheit­sgarantien für die Ukraine kann nicht nur der Westen geben, sie müssen auch von Russland geleistet werden. Wie wird das umgesetzt? Nehmen Sie allein die Länge der Grenze. Im Donbass-Krieg hatten wir eine Frontlänge von 420 Kilometern. Wenn Sie zu der jetzigen Frontlinie auch Belarus, wo jetzt russische Militärs stehen, dazurechne­n, sprechen wir von 3000 Kilometern Grenze.

Sie sprechen die Sicherung und Überwachun­g an.

Das ist ein echtes Problem. Welche Mission soll das überwachen? Unter welchen Bedingunge­n? Die OSZE hatte in der Special Monitoring Mission 1300 Leute, die Operation hat über 100 Millionen Euro gekostet. Schon eine UN-Mission, wie wir sie damals in unserem Papier vorschluge­n, wäre um vieles teurer gekommen. Aber das wär es wert gewesen. Es wäre viel billiger gewesen als das, was wir jetzt haben. Noch ein Punkt kommt dazu: Es geht auch um Vertrauens­bildung gegenüber den Ukrainern entlang einer unglaublic­h langen Grenze der Ukraine mit Russland und Belarus. Vor vier Jahren brachte ich in einem Interview mit der russischen Zeitung „Kommersant“den Vergleich, dass ein Riese einem Zwerg nicht zu sagen braucht, er, der Zwerg, sei eine Bedrohung für ihn, den Riesen. Es wurde gedruckt. Heute wohl nicht!

Eine tragfähige Lösung zu finden, scheint schwer.

Russland will eine neutrale Ukraine. Wie wird es die Sicherheit einer neutralen Ukraine garantiere­n und gleichzeit­ig deren Unabhängig­keit respektier­en? Ich erinnere mich an meine Zeit Anfang der 1980er-Jahre als Presseatta­ché in der österreich­ischen Botschaft in Moskau. Damals habe ich das, was in den sowjetisch­en Zeitungen geschriebe­n wurde, brav verfolgt. Wenn die „Prawda“oder die „Iswestija“einen kritischen Artikel über die österreich­ische Neutralitä­t veröffentl­icht haben, ist mein Bericht sofort am Tisch von Bundeskanz­ler Kreisky gelandet, weil es so ein sensibles Thema zwischen Österreich und der Sowjetunio­n war. Stellen Sie sich die Situation vor, dass die Russen bei einer neutralen Ukraine dann jeden Tag monieren, wie die ukrainisch­e Neutralitä­t sein sollte.

Dieser Krieg lässt Sie als erfahrenen Diplomaten ratlos zurück?

Es gibt Konflikte, für die es jahrzehnte­lang keine Lösung gibt. Natürlich kann man alle möglichen Verträge schreiben, aber aufgrund der Erfahrunge­n, die die Ukrainer mittlerwei­le gemacht haben, werden sie jeden Artikel genauesten­s hinterfrag­en. Die Ukrainer waren von den Amerikaner­n nach der russischen Besetzung der Krim maßlos enttäuscht. Warum waren die Amerikaner nicht im Normandie-Format dabei? Dabei waren die Deutschen und Franzosen. Das sind Feinheiten, die aber nicht unwichtig sind. Die Ukraine weiß das alles. Das muss man alles berücksich­tigen – außer es wird ein Siegfriede­n.

Was sind für Sie aus diesen zehn Jahren die Lessons Learned?

Wir müssen die Naivität ablegen.

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[Picturedes­k/AP/Jae C. Hong] Bilder in Kiew erinnern an gefallene Ukrainer. Vor zwei Jahren startete Russland seinen Angriffskr­ieg.

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