Drittes Kriegsjahr entscheidet über das Schicksal der Ukraine
Die ukrainische Armee muss sich eingraben. Die russischen Invasoren versuchen, in Luhansk und Saporischschja vorzurücken.
Maxim aus Uman in der Zentralukraine lebt seit vier Jahren in Warschau und sagt es offen: „Ich kann nicht zurück in die Ukraine, da sie mich dort an die Front schicken werden.“Natürlich liebe er sein Heimatland, aber für den Waffendienst sei er nicht geschaffen, meint der schmächtige 30-Jährige. „Fünf Jugendfreunde aus dem Fußballclub sind bereits in Zinksärgen zurückgekommen, soll ich mich wirklich auch zu ihnen gesellen?“
Wolodymyr Selenskij, der Staatspräsident der Ukraine, macht gerade mächtig Druck, damit EUStaaten zumindest die männlichen Flüchtlinge zurück in die Ukraine schicken. Viele Frontsoldaten sind seit zwei Jahren im Dienst, sie müssen endlich abgelöst werden. Dafür fehlt dem ukrainischen Heer aber eine halbe Million Soldaten. Estland hat eine Abschiebung wehrfähiger Männer in die Ukraine bereits halbwegs zugesagt, Polen hält sich noch bedeckt, Deutschland hat das Ansinnen Selenskijs rundweg abgelehnt.
Der Personalmangel ist nur eine Facette des ukrainischen Abwehrkrieges gegen die brutale russische Invasion vom
24. Februar 2022.
Dazu kommen
Munitions- und Geldmangel sowie die Kriegsmüdigkeit im Westen.
Vernachlässigt wurde zudem der Globale Süden, allen voran aufstrebende große Staaten wie Indien, Indonesien, Südafrika oder Brasilien. „Der Ukraine-Krieg ist keine Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus,
wie ihr uns das in Europa weiszumachen versucht. Es handelt sich im einen nackten Machtkampf in einem ziemlich kleinen Land der Welt, der Ukraine“, sagte Samir Saran, einer der einflussreichsten indischen Politologen zur „Presse“. Er wirft der EU, den USA und der Nato einen „himmelschreienden Eurozentrismus“vor und geißelt die UmwegImporte von russischem Rohöl nach Europa zum Beispiel via Indien. „So kann man natürlich gut EUSanktionen gegen Russland einhalten und alle kritisieren, die sie nicht unterstützen“, sagt Saran.
Am Freitag freilich wurde bekannt, dass indische Staatsbürger die russische Armee unterstützen. 18 von ihnen strandeten in Städten entlang der ukrainisch-russischen Front. Die indische Regierung bestätigte entsprechende Berichte. Inder bei russischer Armee
Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba hat vor Kurzem eine diplomatische Offensive Richtung Indien und Afrika angekündigt. Zu lang scheint sich die Ukraine nur auf Europa und die USA konzentriert zu haben. Doch auch dort geht inzwischen die Munition aus.
Russland hingegen hat Ende 2023 beschlossen, auf Kriegswirtschaft umzustellen und fortan ganze 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Verteidigung heißt beim russischen Autokraten Wladimir Putin indes Angriff, konkret im Moment auf die Ukraine, nach einem Sieg aber womöglich bald auch auf Moldau, das Baltikum und vielleicht sogar Polen.
Bei einem Waffenarsenalverhältnis von noch etwa 8 zu 1 zuungunsten Kiews wird sich die Ukraine 2024 eher an der rund 1000 Kilometer langen bisherigen Frontlinie eingraben und diese verteidigen müssen. Die im Sommer 2023 angekündigte Gegenoffensive Richtung Asowsches Meer und Halbinsel Krim ist schon vor Monaten zum Stillstand gekommen.
Die Ukrainer müssen im dritten Kriegsjahr laut Experten, etwa des Washingtoner Thinktanks „Institute for the Study of War“, nun 2024 erwarten, dass Russland die Frontlinie weiter begradigen will. Unter Druck kommen damit die Gebiete bei Awdijiwka, Bachmut und Kupjansk im Norden der größtenteils bereits seit Kriegsbeginn russisch besetzten Oblast Luhansk. Gerechnet wird auch mit einer Großattacke auf die einstige 800.000-Einwohner-Stadt Saporischschja.