Die Liebe fand er im Schützengraben
Aleksandar Hemon erzählt in seinem Roman von der verbotenen Liebe zwischen einem Juden und einem Moslem.
Wer meint, unsere Welt sei aus den Fugen geraten, kann im neuen Buch von Aleksander Hemon lernen, dass sie wohl nie in Ordnung war. Der Roman „Die Welt und alles, was sie enthält“beginnt mit der Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand 1914, führt auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, mitten in den Bürgerkrieg nach der russischen Revolution und schließlich nach Shanghai während der japanischen Invasion Chinas 1937. Inmitten dieser Orgie der Gewalt erleben die beiden Hauptfiguren eine Liebesgeschichte, wie sie der Apostel Paulus mit den Worten beschreibt: „Die Liebe hört niemals auf.“
Da ist Rafael Pinto, ein sephardischer Jude, der nach dem Medizinstudium in Wien brav dem Willen seines Vaters Avram gefolgt ist und in Sarajewo die Apotheke der Familie übernommen hat. Während er dem Opium, das er seinen Kunden verschreibt, selbst großzügig zuspricht, träumt er von jenen „seligen Wiener Jahren, als sein Yetzer Hara die Oberhand hatte“: Mit diesem Begriff aus der Thora, der „böser Trieb“bedeutet, umschreibt er, dass er Männer liebt.
Mit Kind durch die Wüste
Diese Liebe findet ihre Erfüllung nicht im provinziellen Sarajewo, sondern als er im Schützengraben des Ersten Weltkriegs den Moslem Osman Karišik, einen begnadeten Erzähler und Charmeur, kennenlernt. Von da an sind die beiden ein unzertrennliches Paar: „Wenn sie während eines Gefechts voneinander getrennt wurden oder Pinto im Feldlazarett bleiben musste, wütete ein Geschoss der Sorge in seinem Inneren, bis Osman heil zurückkehrte.“Hemon gelingt es, die Grausamkeit des Krieges und die zärtliche Liebesbeziehung gleichermaßen glaubhaft zu schildern.
Den Schlachtfeldern Galiziens entkommen sie, doch im usbekischen Taschkent in den Wirren des Bürgerkriegs nach der russischen Revolution sind sie ebenfalls nicht in Sicherheit. „La gran eskuridad“– die große Finsternis, von der Hemon immer wieder auch in Worten und Sätzen in Ladino, Bosnisch und Hebräisch spricht, ist keineswegs vorüber. Mithilfe düsterer Geheimdienstagenten will Osman die Heimkehr nach Sarajewo organisieren. Als er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen begreift, opfert er sich selbst, um Rafael zu retten.
Er hinterlässt ihm eine Tochter, deren Mutter bei der Geburt stirbt, und derer sich nun Rafael annimmt, erst zögernd, dann mit Hingabe. Er schenkt dem Neugeborenen den letzten Schluck Milch, er schleppt das Kind durch die usbekische Wüste, bringt es vor einem Wirbelsturm in Sicherheit. Immer hält er dabei Zwiesprache mit dem vermissten Osman, der ihm Kraft gibt. Das Opfer, das Osman Rafael gebracht hat, erwidert er schließlich gegenüber seiner Tochter.
Was Flucht bedeutet, weiß Hemon, der 1992 als Sprachschüler in Chicago von der Belagerung seiner Heimatstadt Sarajewo überrascht wurde und seither in den USA lebt. Auch was unendliches Leid bedeutet, hat er selbst erfahren: 2011 beschrieb er in einem unvergesslichen Essay den Tod seiner einjährigen Tochter Isabel an einem Gehirntumor. Den Flüchtlingen dieser Welt und seiner Tochter hat er dieses meisterhafte Buch gewidmet.