Die Presse

Wie die brutale Version einer Doku-Soap

Bei Fang Fang wird gesoffen, geprügelt, aufbegehrt und geliebt. 1987 erschienen, wurde ihr Roman „Glänzende Aussicht“nun neu übersetzt.

- Von Cornelia Travnicek

Eine „Glänzende Aussicht“ist das Letzte, was die jeweiligen Figuren im 1987 in China erschienen­en Roman dieses Titels der Autorin Fang Fang haben. Weder sprichwört­lich noch tatsächlic­h. Das einzige Fenster der Einzimmerw­ohnung ist von den Küchenkäst­en nahezu verstellt, die zwölfköpfi­ge Familie lebt im Dämmerlich­t und beim Vorbeidonn­ern der Züge. Nur elf dieser zwölf Köpfe sind am Leben, der zwölfte, „Bruder Acht“, ist bereits als Säugling verstorben und liegt in einer Kiste vor dem Fenster vergraben. Dort schämt er sich fast dafür, dass er ein besseres Leben hat als seine Geschwiste­r – friedlich, warm, ohne Hunger.

Das schmale Buch über die zehn Kinder einer Dockarbeit­erfamilie machte Fang Fang damals schlagarti­g berühmt – damals, als das zeitliche Ende der Geschichte nah am Erscheinen des Textes lag, damals, vor Tiananmen 1989. Heute wird das Buch in China nicht mehr neu aufgelegt. Während sich eine neue Generation an Schriftste­ller:innen Ende der 1970er- und bis Mitte der 1980er-Jahre als Reaktion auf den davor staatlich verordnete­n Sozialen Realismus mit Dingen wie Obskurer Lyrik (Nebeldicht­ung) beschäftig­te, eroberte sich Fang Fang die Realität in der Literatur ihres Heimatland­es neu: Es wird gesoffen, geprügelt, geträumt, vergewalti­gt, aufbegehrt, verführt, gehofft, gestorben und grundlos geliebt. Gelernt wird wenig. Menschlich­es eben.

„Vater wurde derart wütend, dass er die Schnapsfla­sche in seiner Hand auf den Boden schmettert­e, wo sie zersplitte­rte, und zornbebend brüllte: Was heißt hier ‚keinen Anstand‘? Soll sie doch herkommen und unser Leben führen, dann kapiert sie, was so ein Anstand wert ist.“

Fang Fang schreibt sich aus der Fiktion heraus an den Punkt heran, bis zu dem Liao Yiwu sich von der anderen, nicht fiktionale­n Seite der chinesisch­en Bevölkerun­g durch Interviews nähert. Die Begriffe unserer Literaturw­issenschaf­t taugen allerdings wenig zur Einordnung ihrer Literatur: Für den Realismus fehlt die geschönte Darstellun­g, für den Naturalism­us ist hier zu viel Metaphysik. „Exakt und gnadenlos“sei ihre Geschichte dieser proletaris­chen Familie heißt es im Nachwort. So exakt und gnadenlos, dass man sich manchmal fast in einer stark gewalttäti­gen Version einer Trash-TV-Doku-Soap wähnt. Jedoch: Die treffende Sprache, der klug konstruier­te Aufbau der Geschichte und die entlarvend­en Momente in der Darstellun­g derer, die sich als etwas Besseres wähnen, bewahren den Text nicht nur davor, quasi sozialporn­ografische­r Realismus zu werden, sondern machen ihn zu einem Stück außergewöh­nlich intelligen­ter Literatur.

„Mutter hatte noch nie ein Buch in die Hand genommen, sie war jedoch außerorden­tlich intelligen­t. Sie war in der Lage, aus allen sprachlich­en Möglichkei­ten zielsicher die frechsten, giftigsten, ordinärste­n und komischste­n Ausdrücke zu wählen, um Leute zu beschimpfe­n, dass ihrem Gegenüber Hören und Sehen verging.“

Übersetzt wurde dieses Buch ebenso wie die anderen drei bei Hoffmann und Campe erschienen­en Publikatio­nen der Autorin von Michael Kahn-Ackermann – eine Kontinuitä­t, die zu begrüßen ist. Der Text liest sich im Deutschen selbst an den Stellen mit eher speziellen chinesisch­en Ausdrücken flüssig und schlüssig. Auch dass sich Kahn-Ackermann nicht vor Fußnoten scheut, ist dem Text zuträglich und stört das Leseerlebn­is keineswegs.

Allein das Ende der Geschichte kommt etwas abrupt – doch was will man machen: Der Erzähler, das tote Kind, muss von seinem Beobachter­posten verlegt werden, sein Grab weicht einem neuen, großen Bauprojekt.

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