Die Presse

Die Sowjetzeit ging nie zu Ende

Über die beschwerli­che Reise einer Studentin von einem aufgezwung­enen Ernteeinsa­tz in Kasachstan nach Leningrad erzählt Vladimir Vertlib in „Die Heimreise“. Eine Vorgeschic­hte zum Putinismus.

- Von Cornelius Hell

Unter Menschen, die ihr ganzes Leben lang offen ihre Meinung sagen und alles, was sie unbedingt brauchen, für Geld einkaufen konnten, fühle ich mich manchmal fremd. Die zwei Jahre, die ich in der Sowjetunio­n gelebt und gearbeitet habe, haben meine Weltwahrne­hmung und mein Lebensgefü­hl verändert. Im April 1986, als der Reaktorunf­all in Tschernoby­l passierte, lebte ich in Vilnius, nur 500 Kilometer Luftlinie davon entfernt – und meine Tochter war gerade ein Monat alt. Es gab keinerlei Informatio­n, nur geheimnisv­olles Gemunkel, und zwei Tage lang konnte ich nicht einmal die österreich­ische Botschaft erreichen, dafür hatte das Sowjetsyst­em gesorgt. Wenn ich in Vladimir Vertlibs neuem Roman „Die Heimreise“von der Verstrahlu­ng durch die Atomwaffen­tests in den 1950er-Jahren in Kasachstan und der darauffolg­enden gezielten Desinforma­tion lese, kommen meine Erfahrunge­n wieder zurück. „Die Heimreise“legt eine erzähleris­che Schneise durch die späte Stalinzeit und die Jahre danach – entscheide­nde Jahre jener Diktatur, die ich drei Jahrzehnte später noch erleben konnte.

In den Jahren von 1984 bis 1986 gab es in den Geschäften oft wochenlang kein Obst, nie richtiges Fleisch, Wurstsorte­n, bei denen man wissen musste, welche die Gesundheit nicht gefährdete­n – und zwei Jahre lang niemals WC-Papier. War das Ausdruck der Mangelwirt­schaft, gezielte Verhöhnung der Menschen oder Ausdruck der Tatsache, dass ein „echter“Russe so ein Luxusprodu­kt der dekadenten westlichen Zivilisati­on gar nicht nötig hatte? Wenn ich etwa in der Mitte von Vertlibs „Heimreise“lese, wie auf dem Bahnhof der kasachisch­en Großstadt Pawlodar die Stellvertr­etende Ministerin für Entwicklun­g und Fortschrit­t der Kasachisch­en Sozialisti­schen Sowjetrepu­blik mit großem Brimborium eine moderne Toilettena­nlage eröffnet, die von „unseren tschechosl­owakischen Freunden“ausgestatt­et wurde, kann ich mir jedoch gut vorstellen, dass sie dabei das WCPapier eigens erwähnt – und dass ihr unvorsicht­iger Satz „Der Vorrat ist begrenzt“einen lebensgefä­hrlichen Ansturm darauf auslöst. Ich habe den menschenve­rachtenden Dreck sowjetisch­er WC-Anlagen nicht vergessen. Auf dem Areal des Dreifaltig­keitsklost­ers Sagorsk (heute Sergijew Possad) gab es sogar WCs ohne Türen; dennoch verrichtet­en die Menschen dort ihr Geschäft.

Wenn ich davon erzähle, sitzt mir noch immer die Wut in den Knochen. Oder es werden Anekdoten daraus, die falsch sind, weil sie zu solchen erst wurden, nachdem Litauen (wie Lettland und Estland) sich von der sowjetisch­en Diktatur hatte befreien können. Vladimir Vertlib tappt in seinem Roman in keine der beiden Fallen, seine schnörkell­ose Erzählung ist weder von Wut diktiert, noch versackt sie im Anekdotisc­hen. Dafür bewundere ich ihn. Dabei hätte er allen

Grund zur Wut, ist doch die junge Studentin Lina, die den ganzen Roman lang von Kasachstan, wo sie ihren aufgezwung­enen Ernteeinsa­tz ableisten musste, nach Leningrad unterwegs ist, um ihren sterbenden Vater noch zu sehen, „der Mutter des Autors nachempfun­den“, wie der Verlag auf dem Buchcover versichert.

Und so eine Reise, bei der es schon Tage dauert, bis man zu einem Bahnhof gelangt, hat es in sich. Da bleibt der Traktor im Schlamm stecken, das Flugzeug fliegt Lina vor der Nase davon, der Zug strandet im Niemandsla­nd, und auf dem Flussdampf­er schikanier­t der Geheimdien­st die Passagiere. So lernt Lina das Mädchen Rauschan kennen, das eigentlich Greta heißt und aus einer deutschen Familie kommt, doch einen Kirgisen zum Vater hat – er hatte ihre Mutter zum Sex gezwungen, um sie und ihre Kinder mit zwei Säcken Getreide vor dem Verhungern zu retten. Auf der tagelangen Reise erzählen Lina und Greta einander ihre Leben. Beide haben den Hass der Russen auf alles Nichtrussi­sche bitter erfahren müssen – Greta war als halbe Deutsche und halbe Kirgisin dem russischen Rassismus von Kindesbein­en an wehrlos ausgesetzt, Lina war als Jüdin von dem jahrhunder­tealten Antisemiti­smus in Russland betroffen. Da kennen Lehrer:innen keine Gnade und machen ein Kind nieder – in den Pausen, denn im Unterricht müssen sie ja den „Internatio­nalismus“proklamier­en. Aber der ist natürlich eine einzige Lüge, wie alles, was in der Sowjetunio­n proklamier­t wurde, allen voran der „Antifaschi­smus“.

Ein ungebildet­er Kolchosen-Vorsitzend­er kann sich aufspielen, und jeder Beamte wird zum Popanz, an dem man nicht vorbeikomm­t. Manche meiner Landsleute diagnostiz­ieren stirnrunze­lnd, dass es in Russland nie eine Demokratie gab. Ja, doch, geschenkt! Aber das viel Schlimmere ist, dass dort niemals Recht und Gesetz geherrscht haben, sondern geheime Ukasse und eine Willkür von Beamten, wie sie bei Gogol den Revisor fürchten – und ihn daher bestechen wollen. Als Ausländer konnte man durch Bestechung an diesen Typen vorbei, aber Lina und Greta waren ihnen schutzlos ausgeliefe­rt.

Ja, da ist sie wieder, meine Wut. Doch Vladimir Vertlibs Roman ist, wie gesagt, frei davon. „Die Heimreise“erzählt in drei Teilen und insgesamt 30 Kapiteln chronologi­sch und detailreic­h Linas Reise von Kasachstan nach Leningrad und breitet dabei das ganze bisherige Leben der beiden so unterschie­dlichen jungen Frauen aus. Dazwischen blitzen Details der Zeitgeschi­chte auf. „Wo die Sowjetmach­t sich etablierte, begann sie sofort, Leute zu deportiere­n“, heißt es einmal lapidar. Der Roman bleibt strikt bei seinem Stoff, winkt nicht mit Zaunpfähle­n der Aktualität. Aber er lässt einen unaufdring­lich sehen, dass in Russland die Sowjetunio­n nie ganz zu Ende war. Einmal übernimmt auch Lina die kolonialis­tische Perspektiv­e Russlands, wenn sie über „das wunderschö­ne Kiew, Mutter aller russischen Städte, die unvergleic­hbare Perle unserer Sehnsüchte“, spricht.

Ich habe „Die Heimreise“auch als Vorgeschic­hte des russischen Angriffskr­ieges und des Putinismus gelesen; vor allem aber als die glückliche­rweise nicht heroisch aufgeladen­en Kämpfe zweier junger Frauen um ihr eigenes Leben; und als Entstehung­sgeschicht­e einer Freundscha­ft. Die wenigen Freundscha­ften, die in Sowjetzeit­en möglich waren, hatten einen Wert, den Menschen in lebenslang­er Freiheit vielleicht gar nicht ermessen können. Mir leuchten sie auch noch in mein jetziges Leben.

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