Die Presse

Vermessene Demokratie­vermessung

Die Rolle sogenannte­r Demokratie­indizes wird immer wichtiger. Deren theoretisc­he Basis ist aber unverschäm­t schwach.

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VON ALEXANDER SOMEK UND FABIO WOLKENSTEI­N

Vorige Woche ist der „Democracy Index 2023“veröffentl­icht worden. Erstellt wird er alljährlic­h von der „Intelligen­ce Unit“der englischen Zeitschrif­t „The Economist“und bietet ein Ranking von 165 Ländern. Der numerische­n Rangordnun­g ist ein vierfaches Raster unterlegt, das politische Systeme danach klassifizi­ert, ob sie „vollständi­ge“oder „mangelhaft­e“Demokratie­n oder aber „hybride“oder gar autoritäre Systeme seien. Angeführt wird das jüngste Ranking von Norwegen; das Schlusslic­ht ist wenig überrasche­nd Afghanista­n.

Es sieht es so aus, als lägen die Fakten wieder einmal auf dem Tisch. Die internatio­nalen Experten haben gesprochen. Die nationalen Journalist­en können nun die Regierungs­mitglieder mit der Frage konfrontie­ren, woran es denn liege, dass das eigene Land eine schlechter­e Position habe als im Vorjahr. Aber auch die internatio­nale Politik kann sich bei der Sozialwiss­enschaft bedienen. Der in die EU drängenden Ukraine lässt sich nun ganz sachlich entgegenha­lten, sie sei nach Mexiko und vor Uganda im Ranking auf Rang 91 platziert. Es gebe wohl noch Verbesseru­ngsbedarf.

Aber handelt es sich bei den Informatio­nen, die dem Ranking zugrunde liegen, überhaupt um Fakten?

Ein Blick in den methodolog­ischen Appendix der Studie stimmt nachdenkli­ch. Die gesammelte­n Länderinfo­rmationen beruhen überwiegen­d auf den Antworten von Experten, deren Auswahl im Dunkeln bleibt. Sollten die Informatio­nen über ein Land lückenhaft sein, werden die Daten vergleichb­arer Länder auf dieses übertragen aufgrund der bloßen Vermutung, es werde schon da wie dort gleich sein. Die Faktoren, die über die Verleihung des Prädikats „demokratis­ch“den Ausschlag geben, sind vage, vor allem auch deshalb, weil sie Einschätzu­ngen über die Bürgerpart­izipation und die politische Kultur einschließ­en. Ein solcher Impression­ismus ist das Einfallsto­r für die subjektive­n Wertungen der „Experten“. Ob man glaubt, es gebe freies Meinungskl­ima (Frage V 46), hängt etwa davon ab, ob man ein Grün wählender Bobo oder ein Corona-Skeptiker ist. Ob es signifikan­te Diskrimini­erung gibt, wird von dunkelhäut­igen Einwandere­rn wohl anders beurteilt werden als von weißen Professori­nnen.

Getarnt als Konformism­us

Durch die Einbeziehu­ng solcher weichen Faktoren ist der relevante Begriff der Demokratie breit gezogen und dessen evaluative Komponente verstärkt; gleichzeit­ig wird der Begriff an entscheide­nder Stelle auch verengt, wohl um der neoliberal­en Vorstellun­gswelt des „Economist“zu genügen. Die soziale Gleichheit oder Ungleichhe­it sei für die Klassifika­tion von Demokratie­n irrelevant. In kläglichst­er liberaler

Manier wird damit der innere Konnex zwischen Demokratie und Gleichheit gekappt. Begründet wird dies mit dem Hinweis darauf, dass die „dominant position“diesen nicht sehe. Die mangelnde Sachlichke­it tarnt sich ziemlich hilflos als Konformism­us.

Besonders schwer wiegt, dass auf Fragen eine einfache Antwort erwartet wird, wenn sich eine solche nicht geben lässt. Ist die Gesetzgebu­ng in Österreich die höchste Gewalt? (Frage II 14). Ja und nein, denn eigentlich ist sie dies nicht, weil selbst eine gesamtände­rnde Verfassung­sänderung vom VfGH aufgehoben werden könnte. Insofern ist Österreich nicht liberal demokratis­ch – jedoch nicht aus den Gründen, die 2022 das schwedisch­e V-Dem Institut dazu veranlasst haben, Österreich zur bloßen „Wahldemokr­atie“herabzustu­fen. Als unzweifelh­aft liberale Demokratie gilt hingegen ein Land mit parlamenta­rischer Souveränit­ät und ohne Verfassung­sgerichtsb­arkeit, wiewohl die Grundrecht­e in einem solchen weniger geschützt sind als bei uns. Ist es der Fall, dass fremde Mächte und Organisati­onen wichtige Regierungs­funktionen und Politiken beeinfluss­en (Frage II, 17)? Die Frage ist unsinnig. Wie könnte dies in der EU und im globalen „multilevel system“anders sein? Der Survey ist für die Realitäten der globalisie­rten Welt blind.

Es ist die implizite und niemals reflektier­te Hintergrun­dannahme der Demokratie­indizes, dass die Sozialwiss­enschaftle­r heute genau wissen, was „Demokratie“bedeutet und dass dieses Wissen einfach in Indikatore­n übersetzt werden kann, die quer durch Zeit und Raum angewendet werden können. Legitim wäre dies nur aufgrund von zwei Prämissen, die von der Sozialwiss­enschaft aber nicht eingeholt werden können. Entweder man bekennt sich zu einer Spielart des End-of-History-Denkens und behauptet, dass wir jetzt, im frühen 21. Jahrhunder­t, endlich wirklich wissen, was Demokratie bedeutet; oder aber man argumentie­rt mit einem kruden moralische­n Objektivis­mus, demzufolge unsere heutigen Demokratie­standards immer schon richtig gewesen sind. Dann müsste man folgericht­ig aber auch behaupten, dass auch bestimmte Institutio­nen, deren Beschaffen­heit Indizes ja mittels verschiede­ner Indikatore­n messen, schon immer für die Demokratie zentral waren. Historisch­e institutio­nelle Innovation­en (etwa die kelseniani­sche Entwicklun­g des Verfassung­sgerichtsh­ofs) waren demnach nichts weiter, als ein Erkennen des bereits Richtigen. Kurzum: Wenn wir die Arbeit der empirische­n Sozialwiss­enschaftle­r machen wollten und ihre nicht argumentie­rten Hintergrun­dannahmen rechtferti­gen müssten, hätten wir die Wahl zwischen positivist­isch verbrämter Kryptogesc­hichtsphil­osophie und einem ahistorisc­hen moralische­n Objektivis­mus. Man muss nicht Karl Popper sein, um zu erkennen, dass das keine gute Wahl ist.

Den Status quo bevorzugen

Demokratie­indizes bevorzugen nicht zufällig den Status quo, insoweit bestenfall­s unklar ist, ob sie eine innovative Weiterentw­icklung demokratis­cher Institutio­nen als ein Mehr an Demokratie messen können. In einem Institutio­nengefüge mit starker Verfassung­sgerichtsb­arkeit würde etwa jede Machtversc­hiebung zugunsten der Politik als demokratis­che Regression gelten. Gleichzeit­ig führen die skandinavi­schen Länder, die ganz ohne Verfassung­sgerichte auskommen, die Rankings an.

Die Reflexion über Demokratie­indizes ist keine bloße akademisch­e Spitzfindi­gkeit. Für sogenannte weniger entwickelt­e Länder haben sie inzwischen eine beinahe ebenso wichtige Rolle wie Korruption­sindizes (insbes. der Index Transparen­cy Internatio­nal). Unsere Kollegen aus Osteuropa und vom Balkan berichten immer wieder, wie wichtig es für ihre Länder ist, in diesen Rankings nicht herunterge­stuft zu werden. Ausländisc­he Investitio­nen hängen unter anderem davon ab, wie man gerankt ist. Es ist daher umso unverschäm­ter, dass die theoretisc­he Basis dieser Indizes so schwach ist.

Wozu also die Rankings? Einerseits handelt es sich um Wichtigtue­rei seitens der sie veröffentl­ichenden Institutio­nen, anderersei­ts um ein Mittel der Politik, dessen Auftreten und Relevanz in Demokratie­indizes wohl selbst negativ registrier­t werden sollte.

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