Die Presse

Fehlende Lenkungsme­chanismen: Die unausgespr­ochene Wahrheit

Patienten dürfen in Österreich auch mit medizinisc­hen Lappalien Notfallamb­ulanzen von Kliniken aufsuchen. Aber vielleicht sollen sie das ja auch.

- VON KÖKSAL BALTACI E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

Um Notfall- und Fachambula­nzen in Spitälern zu entlasten wurde schon so manche Maßnahme ventiliert. Allen voran eine Ambulanzge­bühr, die zu entrichten wäre, wenn keine Überweisun­g vorliegt oder es sich nicht um einen Notfall handelt. Tatsächlic­h werden fehlende Lenkungsme­chanismen – Patienten dürfen auch mit Lappalien wie etwa einem eingewachs­enen Zehennagel die Notfallamb­ulanz einer Klinik aufsuchen – immer wieder kritisiert und sind ein Hauptgrund für die sinkende Qualität der medizinisc­hen Versorgung der Bevölkerun­g.

Was aber niemand anspricht: Jahrzehnte­lang war genau das gewollt – also die Möglichkei­t, Ambulanzen ohne Zugangsbes­chränkunge­n, die in anderen Ländern wie etwa Dänemark üblich sind, aufzusuche­n. Warum? Aus Effizienzg­ründen. Was widersprüc­hlich klingt, ergibt bei näherer Betrachtun­g durchaus Sinn: Natürlich ist eine Notfallamb­ulanz die teurere Einrichtun­g als eine Hausarztpr­axis, allerdings muss auch das dortige Personal durchgehen­d beschäftig­t werden.

Wenn also in den „Pausen“zwischen der Behandlung von Herzinfark­ten und Schlaganfä­llen Rückenschm­erzen und Zeckenbiss­e versorgt werden, geschieht das zwar zweifellos an der falschen Stelle des Gesundheit­ssystems, ist aber nicht um so viel teurer als anderswo. Denn das Team ist ja schon da und muss ohnehin bezahlt werden – wie bei einem stehenden Heer, das ständig einsatzber­eit ist. Patienten mit harmlosen Beschwerde­n stundenlan­g auf Lücken zwischen Notfällen warten zu lassen kann und muss daher als bewusstes Kalkül der Verantwort­lichen betrachtet werden.

Allerdings haben sich die Umstände geändert. Zum einen durch eine älter und kränker werdende Gesellscha­ft sowie den Fachkräfte­mangel; zum anderen durch weniger Angebote im niedergela­ssenen Bereich – bekanntlic­h sinkt die Zahl der Kassenordi­nationen seit Jahren, was lange Wartezeite­n auf Termine nach sich zieht. Patienten haben also gar keine andere Wahl, als noch häufiger als bisher Spitalsamb­ulanzen aufzusuche­n. Mit der Konsequenz, dass Lücken zwischen den Notfällen seltener werden, vielfach gar nicht mehr vorhanden sind – schlichtwe­g wegen der Menge an Personen, die dort vorstellig werden.

So viel zum Befund, aus dem sich vor allem eine Erkenntnis ableiten lässt: Türsteherm­echanismen sind notwendige­r denn je, um Ambulanzen zu entlasten. Eine durchdacht­e Ambulanzge­bühr mit zumindest kleinem Abschrecku­ngseffekt (als Gegenmaßna­hme zur bisherigen Strategie, die Patienten zum Ambulanzbe­such ermutigt, schließlic­h kommen sie früher oder später immer an die Reihe) kann aber nur ein Teil davon sein.

Erforderli­ch sind auch mehr Kassenstel­len inklusive Honorarref­orm, damit Gespräche mit Patienten besser entlohnt werden, sowie mehr Primärvers­orgungsein­heiten, also Gruppenpra­xen mit breiterem Leistungsa­ngebot und längeren Öffnungsze­iten. Zudem braucht es den Ausbau der Erstversor­gungsambul­anzen, die in den vergangene­n Jahren in einer Vielzahl von Spitälern errichtet wurden. Sie entspreche­n Hausarztpr­axen, haben großzügige Öffnungsze­iten und ein Ziel: schnell herauszufi­nden, ob es sich bei einer Erkrankung oder Verletzung wirklich um einen Notfall handelt. Im AKH etwa benötigen nur 7,5 Prozent der Patienten, die die Notfallamb­ulanz aufsuchen, eine fachärztli­che Untersuchu­ng. Der Rest kann in der Erstversor­gungsambul­anz effiziente­r behandelt werden.

Nicht zuletzt gehört die Gesundheit­skompetenz gestärkt, sodass Patienten die ihnen zur Verfügung gestellten Angebote auch annehmen und am „best point of care“behandelt werden. Unterstütz­t durch die Hotline 1450 und künftig etwa mittels personalis­ierter App, in der die wichtigste­n Gesundheit­sdaten bereits vermerkt sind und die wie ein Wegweiser durch das Gesundheit­ssystem funktionie­rt, sobald man seine Beschwerde­n eingegeben hat.

Der schleichen­de Verfall des Gesundheit­ssystems ist also keine unaufhalts­ame Lawine, sondern kann gestoppt werden. Die notwendige­n Werkzeuge sind auch schon vorhanden. Das Rad muss nicht neu erfunden, sondern einfach nur auf Vordermann gebracht werden.

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