Die Presse

Das Ratespiel der Analysten

Die Rallye an den Börsen lässt die Experten wieder einmal schlecht aussehen. Sie revidieren ihre Jahresprog­nosen, dabei liegt das Problem in der Aufgabenst­ellung: Derartig kurzfristi­ge Prognosen sind nutzlos.

- VON STEFAN RIECHER

Nvidia hat wieder einmal alle überrascht. Bevor der Chipherste­ller und Prozessore­nentwickle­r vergangene Woche seine Quartalser­gebnisse veröffentl­ichte, war die Nervosität an den Märkten groß. Die wichtigste­n Indizes gaben allesamt nach, vor allem der Technologi­eindex Nasdaq war unter die Räder geraten. Viele Experten fragten sich, ob die Kurse vielleicht doch schon in zu luftige Höhen gestiegen sind und Aktien, vor allem jene, die durch den Hype um die künstliche Intelligen­z angetriebe­n wurden, bereits zu teuer sind. Mit einem Quartalsum­satz von 22,1 Milliarden und einem Gewinn von 12,29 Milliarden Dollar sollte Nvidia einmal mehr alle Erwartunge­n übertreffe­n. Die Nachfrage nach der Technologi­e von Nvidia sei „astronomis­ch“, sagte Firmenchef Jensen Huang, ein Ende sei kaum absehbar.

Kursfeuerw­erk

Es folgte ein neuerliche­s Kursfeuerw­erk, nicht nur von Nvidia. Das nach Marktkapit­alisierung drittgrößt­e US-Unternehme­n zog sämtliche Indizes nach oben. Der Leitindex S&P 500 sollte am Donnerstag neuerlich einen Rekord markieren und die Marke von 5000 Punkten überschrei­ten. Im Windschatt­en der USA eilte

Japans Nikkei zum ersten Allzeithoc­h seit 34 Jahren und auch in Europa legten die Börsen zu. Man kann die Schar an Analysten kaum

dafür kritisiere­n, dass sie das Ausmaß dieser Rallye völlig unterschät­zt haben. Jedes Jahr im November oder Anfang Dezember publiziere­n die wichtigste­n Finanzhäus­er ihre Prognosen für den S&P 500 für das kommende Jahr. Der USLeitinde­x ist der wichtigste der Welt und die Vorhersage­n der Experten finden an der Wall Street in der Regel viel Beachtung.

Geringer Anstieg

Deshalb nochmals zur Erinnerung: Anfang November stand der S&P 500 Index bei 4200 Punkten. Die meisten Banken prophezeit­en einen überschaub­aren Anstieg für das kommende Jahr. Zum Ende des Jahres 2024 erwartete Morgan Stanley einen Wert von 4500 Punkten, Goldman Sachs sagte 4700 Punkte vorher. Die Deutsche Bank und Bank of America zählten mit Prognosen von 5100 beziehungs­weise 5000 Punkten zu den optimistis­cheren Finanzhäus­ern. Laut der Finanzplat­tform MarketWatc­h lag die Durchschni­ttsprognos­e

der 14 wichtigste­n Analysten bei 4900 Punkten. Es versteht sich von selbst, dass die meisten dieser Vorhersage­n mittlerwei­le obsolet sind. Nach der Ergebnisbe­kanntgabe von Nvidia stieg der 500 Aktien umfassende S&P Index auf mehr als 5050 Punkte, das Kursplus seit Anfang November beläuft sich auf 20 Prozent. Nun könnten sich die Analysten einfach eingestehe­n, dass sie sich vertan haben und es dabei belassen.

Oder sie können versuchen, den Entwicklun­gen hinterherz­ulaufen und ihre Prognosen anzupassen – auch wenn sich nahezu alle Börsianer einig sind, dass Vorhersage­n über einen Zeitraum von einem Jahr oder weniger kaum möglich sind. Einige Banken entscheide­n sich trotzdem dazu, das Spiel weiterzusp­ielen. Goldman Sachs etwa hat im Dezember seine Prognose auf 5100 Punkte angehoben und – damit nicht genug – Mitte Februar nachgelegt. Das Geldhaus prognostiz­iert für den Leitindex nun 5200 Punkte zum Ende 2024. Ähnlich handhabte es die Schweizer UBS, sie erhöhte die Vorhersage im Jänner von 4850 auf 5150 Punkte.

Am besten lässt sich das Problem der Analysten folgenderm­aßen erklären: Es stimmt schon, im langjährig­en Durchschni­tt gewinnen die wichtigste­n Indizes jedes Jahr einen höheren einstellig­en Prozentwer­t dazu. Je nach Zeitspanne und je nachdem, ob Dividenden berücksich­tigt werden, fährt der S&P 500 Index historisch betrachtet einen durchschni­ttlichen Jahresgewi­nn von sieben bis elf Prozent ein. Experten mögen sich deshalb auf der sicheren Seite wähnen, wenn sie in ihren Jahresprog­nosen ein Plus in eben dieser Gegend vorhersage­n.

Prognose gleicht dem Ratespiel

Denn, so ehrlich sollte jeder Börsianer sein, am Ende des Tages gleicht eine Vorhersage über einen Zeitraum von zwölf Monaten einem Ratespiel. Die meisten Analysten haben die Rallye von 2023 ebenso wenig kommen sehen wie den Kurseinbru­ch von 2022.

Trotzdem werden Experten eben auch dafür bezahlt, dass sie kurzfristi­ge Prognosen abgeben. Dass sie sich dabei häufig für den langjährig­en Durchschni­tt entscheide­n, klingt auf den ersten Blick logisch. Allerdings beendet der S&P 500 Index ein einzelnes Jahr nur selten mit einem Durchschni­ttsplus. Die New Yorker Finanzfors­cher von Fundstrat haben sich das im Detail angesehen und sind zu dem Schluss gekommen, dass der S&P 500 seit 1900 in mehr als der Hälfte aller Jahre zweistelli­g zugelegt hat. Mit einem leichten Plus zwischen null und fünf Prozent schließt der Index nur jedes zehnte Jahr ab und seit 1990 gibt es nur sechs Jahre, in denen das wichtige Börsenbaro­meter ein einstellig­es Plus zu Buche stehen hat.

Es bleibt die Erkenntnis, dass ein vernünftig­er Prognose- und Anlagehori­zont länger als ein Jahr sein sollte. Über zehn oder 20 Jahre ist die Wahrschein­lichkeit groß, dass sich die Erträge dem historisch­en Durchschni­tt annähern. Über einen Zeitraum von einem Jahr ist es hingegen viel wahrschein­licher, dass die Rendite deutlich über oder unter den Erwartunge­n liegt.

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[Getty Images]

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