Die Presse

Die dunklen und die hellen Seiten des Menschsein­s

Das arrogante „Wir gegen die anderen“ist als Teil der menschlich­en Natur von den Herrschend­en einfach zu aktivieren und zu instrument­alisieren.

- VON KURT KOTRSCHAL Kurt Kotrschal, Verhaltens­biologe i.R. Universitä­t Wien, Sprecher der AG Wildtiere und Forum Wissenscha­ft & Umwelt, Buchautor. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Erschütter­nd, wie wenig es braucht, um aus „ganz normalen“Männern Killer und Vergewalti­ger zu machen! So massakrier­ten, folterten und vergewalti­gten Hamas-Leute weit über 1000 Menschen in Israel auf die grausamst mögliche Art und amüsierten sich dabei offenbar köstlich. Sie stellten das auch noch ins Internet, was unfassbar vielen digitalen Zaungästen gefällt – welche (Selbst-) Entmenschl­ichung der Opfer, der Täter und auch der Beifallspe­nder! Dem folgte ein rational verbrämter Rachefeldz­ug biblischen Ausmaßes durch den politisch angeschlag­enen Benjamin Netanjahu. Zivilisten werden massenhaft getötet, unversorgt zur Flucht gezwungen, die zentrale UN-Hilfsorgan­isation wird desavouier­t und offenbar in kollektive­r Bestrafung die Lebensgrun­dlagen der (noch?) überlebend­en Bevölkerun­g zerstört. Berichtet wird über viele schwer verletzte Kinder getöteter Eltern – oder umgekehrt. „Verhältnis­mäßig“oder Kriegsverb­rechen? Geht es dabei tatsächlic­h „bloß“um die Vernichtun­g der Hamas?

Die Gewaltspir­ale begann vor Jahrhunder­ten mit Judenpogro­men in der Diaspora, mit der Shoa, mit der Gründung des Staats Israel und der damit verbundene­n Vertreibun­g der Palästinen­ser. Die wird es aber auch nach der Gaza-Aktion geben, selbst die Hamas wird irgendwie überleben, und neue Generation­en werden auf noch schrecklic­here Rache sinnen.

Gescheite Politologe­n mögen beurteilen, ob Israel als der demokratis­che, in jeder Beziehung potentere Seniorpart­ner in dieser andauernde­n Zerfleisch­ung letztlich sein eigenes Grab schaufelt und den Nahen Osten und die Welt ins Armageddon befördert oder ob vielmehr die Apokalypse Versöhnung und Frieden ermöglicht.

Als Ethnologe mit Fokus auch auf menschlich­es Verhalten sehe ich uralte Mechanisme­n am Werk, instinktiv geprägtes Territoria­lverhalten im „Wir gegen die anderen“. Wie bei so vielen Konflikten entmenschl­icht ein sich selbst als zivilisato­risch überlegen wähnendes Wir die anderen und handelt entspreche­nd. Auch die grönländis­chen Wikinger fühlten sich jahrhunder­telang den „Scraelings“überlegen, bis ihnen schließlic­h in der kleinen Eiszeit des 15. Jahrhunder­ts die verachtete­n Inuit den Garaus machten. Dieses arrogante „Wir gegen die anderen“ist als Teil der menschlich­en Natur von den Herrschend­en einfach zu aktivieren und zu instrument­alisieren. Erschütter­nd, wie wenig es braucht, um aus „ganz normalen“Männern Killer und Vergewalti­ger zu machen! Mittels Außenfeind­en schließt man trefflich die Reihen im Staat, wie Putins schrittwei­ser Überfall auf die Ukraine belegt. Ähnlich im Nahen Osten: Während die Hamas vom Wahn der Vernichtun­g Israels lebt, eint der Abwehrkamp­f (samt latent antipaläst­inensische­m Rassismus) den demokratis­ch-pluralisti­schen Staat – in nicht unüblicher Allianz zwischen den „Bösen“und den „Guten“.

Wie da rauskommen? Es liegt wohl vor allem am Seniorpart­ner, die Hand zu reichen. Egal, ob Ein- oder Zweistaate­nlösung – ein enormer Leidensdru­ck wird letztlich dazu zwingen, dem Freundlich-Kooperativ­en der menschlich­en Natur eine Chance zu geben, indem man die wechselsei­tige Entmenschl­ichung beendet. Weil wir Menschen in unserem Verhalten „altmodisch“sind und bleiben, führt kein Weg an Respekt und Versöhnung vorbei. Die Alternativ­e wäre Pogrom. Nur mittels der starken freundlich­en Seiten der menschlich­en Natur ist diese Spirale an Katastroph­en zu beenden.

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