Selenskijs Tabula rasa hat einen üblen Beigeschmack
Der Präsident hat seinen populären Oberbefehlshaber Saluschnij mitten im Krieg ausgetauscht. Eine riskante Entscheidung.
Einen schlechteren Zeitpunkt, um eine Tabula rasa in der Militärführung des Landes vorzunehmen, hätte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij eigentlich gar nicht wählen können: Die seit Monaten schwerst umkämpfte ostukrainische Stadt Awdijiwka vor dem Fall, ein akuter Mangel an Kriegsgerät und Munition vor allem wegen ausbleibender westlicher Waffenlieferungen, gravierende Personalengpässe in so manchen Infanterie-Einheiten, die im Fronteinsatz stehen.
Dennoch entließ Selenskij am 8. Februar seinen Oberbefehlshaber Valerij Saluschnij und ernannte an seiner Stelle Generaloberst Oleksander Syrskij zum obersten Militärchef. Die Entlassung kam nicht überraschend, spätestens Anfang November waren Differenzen zwischen Selenskij und Saluschnij offenkundig geworden.
Aber schon zuvor hatte Selenskij die Position Saluschnijs untergraben, indem er hinter seinem Rücken Untergebene des Oberbefehlshabers
kontaktierte und direkte Anweisungen gab. Und der Präsident nahm personelle Veränderungen vor, ohne diese mit Saluschnij abzusprechen.
Der ehemalige ukrainische Armeechef, Generalleutnant Ihor Romanenko, warf dem Präsidenten und seiner Administration überdies vor, sie hätten Saluschnij nicht zugehört, als dieser auf brennende
Probleme wie die notwendige Rotation von Fronttruppen, die Mobilisierung neuer Soldaten sowie den Mangel an Ausrüstung und Kriegsgerät aufmerksam gemacht hatte. „Weil die Regierung ihm nicht zuhörte, war er gezwungen, sich in ausländischen Medien zu den ungelösten Problemen zu äußern“, spielte Romanenko auf Saluschnijs Wortmeldungen im Londoner „Economist“und zuletzt im TVSender CNN an. Die wirbelten Staub auf und erbosten die politische Führung, weil der Oberbefehlshaber die Lage offen angesprochen hatte („ein Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg“).
Offiziell begründete Selenskij die Ablösung Saluschnijs damit, dass es neue Leute und neue Ansätze in der Militärführung brauche. Doch zahlreiche Beobachter des Geschehens gehen davon aus, dass diese Entlassung mit Argwohn und Eifersucht zu tun hatte: Saluschnij, seiner Erscheinung nach groß, robust, bedächtig und abgehärtet, ist in der Öffentlichkeit populärer als Selenskij. In einer Umfrage vom vergangenen Jahr vertrauten ihm 88 Prozent der Befragten gegenüber 62 Prozent für Selenskij.
Und obwohl Saluschnij stets versucht hatte, einen offenen Konflikt mit der Führung zu vermeiden, unterstellte ihm die Präsidentschaftskanzlei politische Ambi
tionen. Tatsächlich umwirbt jetzt die Opposition den General, um bei künftigen Wahlen ein Zugpferd in ihren Reihen zu haben.
Eine andere Erklärung für das Zerwürfnis ist, dass die Präsidentenadministration einen Sündenbock für die gescheiterte Sommeroffensive präsentieren wollte. Tatsächlich ist unbestritten, dass diese Offensive zur Zurückdrängung der russischen Invasoren im Osten und Süden der Ukraine nie richtig vorangekommen ist. Obwohl minutiös und umsichtig mit westlichen Beratern vorbereitet, blieb sie schon nach wenigen Tagen im russischen Abwehrfeuer und in den gründlich vorbereiteten Verteidigungslinien der Russen stecken.
Die „Washington Post“schreibt in einer sorgfältig recherchierten Analyse der missglückten Offensive über größere Differenzen zwischen westlichen und ukrainischen Planern über Strategie, Taktik und Zeitpunkt der Militäroperation. Um den russischen Verteidigungsvorbereitungen entgegenzuwirken, drängten die US-Planer auf den Beginn
der Offensive Mitte April, sie startete dann erst im Juni. Das Pentagon schlug einen Großangriff im Süden vor, um in 60 bis 90 Tagen zum Assowschen Meer vorzustoßen und die russischen Invasoren in der Region Kherson abzuschneiden. Die Ukrainer aber begannen ihre Offensive gleich an drei Frontabschnitten im Süden und Osten. Und nur 70 Prozent der eingesetzten ukrainischen Truppen hatten bereits Kampferfahrung.
Wer da wen, wann, wo und wozu zum Losschlagen drängte, werden wohl erst künftige Militärhistoriker herausfinden. Unbestreitbar ist : Saluschnij trägt als Oberbefehlshaber ein gerüttelt Maß an Verantwortung für den Fehlschlag der Offensive. Aber es ist keineswegs gewiss, dass die Offensive erfolgreicher gewesen wäre, wenn sich die Ukrainer an die westlichen Kriegsplanungen gehalten hätten. Von Saluschnij weiß man nur, dass er bei all seinen militärischen Anweisungen immer das Schicksal
DER AUTOR
Burkhard Bischof war viele Jahre Außenpolitikexperte der „Presse“und langjähriger Leiter des Debattenressorts. seiner Soldaten in den Mittelpunkt stellte. Das machte ihn auch so populär bei der Truppe und unterscheidet ihn fundamental von russischen Militärführern.
Und es unterscheidet ihn auch von seinem Nachfolger als Oberbefehlshaber, General Syrskij. Von ihm heißt es, dass er bei seinen Operationen einen härteren Ansatz verfolge als Saluschnij und ihm das Schicksal der Soldaten weniger wichtig sei, wie sich bei den von ihm kommandierten Einsätzen in Debalzewe im Februar 2015 und bei der Schlacht im Bachmut im Frühjahr 2023 gezeigt habe.
Russische Fleischangriffe
Syrskij bestreitet das vehement. In einem Interview mit dem ZDF kurz vor seiner Ernennung zum Oberbefehlshaber erklärte er: „Wir können uns eine Haltung wie die der russischen Militärkommandanten nicht leisten, die die Taktik von Fleischangriffen anwenden.“Es sei besser, eine Position zu räumen, als das Leben der Soldaten aufs Spiel zu setzen. Tatsächlich haben sich die ukrainischen Streitkräfte gut eine Woche nach Syrskijs Beförderung aus der seit Monaten erbittert umkämpften Stadt Awdijiwka zurückgezogen. Die eigenen Verluste waren dabei empfindlich.
Hingegen waren die Verluste der Russen bei ihrem monatelangen Ansturm kolossal. Die Rede ist von 16.000 „unersetzbaren Verlusten“(Tote und Schwerverletzte), das wären in fünf Monaten Kampf um Awdijiwka mehr als im zehnjährigen Krieg in Afghanistan. Zudem verloren die Russen in der Schlacht um Awdijiwka über 220 Panzer und über 370 Infanteriekampfwagen, insgesamt über 660 Stück großes Kriegsgerät.
Kriegsmüde Bevölkerung
Trotzdem ist der Abzug aus Awdijiwka für die ukrainischen Verteidiger ein bitterer Rückschlag. Er kommt zu einem Zeitpunkt, da die Kriegsmüdigkeit in der ukrainischen Bevölkerung wächst und die Enttäuschung über die westlichen Partner, insbesondere die USA wegen der blockierten Milliarden-Unterstützung im Kongress, groß ist. Dazu kommt die allgemeine Irritation wegen Selenskijs unzureichend begründeten Umbesetzungen in der Militärführung.
Der renommierte amerikanische Osteuropa-Historiker Timothy Snyder kommentierte das zuletzt in einer Pressekonferenz im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien: „Mir ist es ehrlich gesagt lieber, wenn Politiker Generäle austauschen, als wenn Generäle in die Politik streben.“