„Russland wird in Arktis zu Chinas Pförtner“
Die Klimakrise ist um den Nordpol ausgeprägter. Das wirft neue geostrategische Fragen auf.
Die Arktis hat acht direkte Anrainerstaaten, deren Kampf um Einfluss und Interessen bisher eingefroren war. Dies ändert sich mit der fortschreitenden Klimakrise zusehends: Thema einer „European Context“Veranstaltung in Wien.
Die Atmosphäre über dem Nördlichen Eismeer erwärmt sich zwei- bis dreimal so stark wie der Rest der Welt. „Um das in einen Zeitrahmen zu stellen: Die Temperaturänderung ist in dieser Region höher als in den vergangen zwei Millionen Jahren. Der Meeresspiegel ist in den vergangenen 3000 Jahren nicht so hoch gestiegen“, berichtet Guðfinna Aðalgeirsdóttir, Professorin für Glaziologie am Institut für Erdwissenschaften der Universität Island.
Diese Veränderung weckt Begehrlichkeiten und schafft Unsicherheiten – eine Entwicklung, die sich in den kommenden Jahrzehnten verschärfen wird. Rasmus Gjedssø Bertelsen, Professor an der Arktis Universität von Norwegen in Tromsø: „Die Schätzungen für die Ölvorräte belaufen sich auf 90 Milliarden Barrel Öl und 44 Milliarden Kubikmeter
Gas.“In der Arktis werden zudem viele andere Rohstoffe vermutet.
Für die nächste Zukunft sei allerdings noch nicht mit einem Wettlauf um die Rohstoffe zu rechnen, meint Christopher Robert Rossi, Professor für internationales Recht und internationale Beziehungen der Arktis Universität von Norwegen in Tromsø. „Manche reden von einem „neuen Suez-Kanal“– das ist übertrieben.“Theoretisch verkürze sich der Seeweg von Asien nach Europa zwar um ein bis zwei Wochen, allerdings liege die volle Befahrbarkeit noch viele Jahre entfernt.
Gefahr von Cyberattacken
Trotzdem habe der Überfall Russlands auf die Ukraine dazu geführt, dass sämtliche Anrainerstaaten ihre Geostrategien im Hinblick auf die Arktis ändern und weiter ändern werden. Für die Region um den Pol interessieren sich nun nicht nur die Anrainerländer, sondern auch Indien und China – obwohl diese Länder mehr als 1000 Kilometer vom Nördlichen Eismeer entfernt liegen.
„Russland wird damit zum Pförtner für China“, so Rossi. Mit gemischten Gefühlen – einerseits seien die Regierenden Russlands und Chinas einander näher gerückt, andererseits habe Russland wenig Interesse, die Einflusssphäre am Eismeer zu teilen.
„Russland hat diese Region erobert und über 400 Jahre entwickelt, Hochseehäfen gebaut und Verteidigungsanlagen errichtet.“Jetzt aber geraten durch das Tauen des Permafrosts Infrastruktureinrichtungen ins Wanken. Rossi meint auch, dass das Ostsee nun ein „Nato-See“ist.
Im Auge müsse schließlich auch behalten werden, dass die Schiffsroute durchs Nordmeer auch den Weg für das Verlegen von Unterseekabeln öffnet, wodurch die Datenübertragung zwischen China und Europa beschleunigt wird. „Und die Gefahr von Cyberattacken erhöht.“In den acht Anrainerstaaten der Arktis leben vier Millionen Menschen. Eine halbe Million sind Indigene, für die sich in den kommenden Jahrzehnten am meisten ändern werde. Für Russland ist die Arktis in Bezug auf Rohstoffe von zentraler Bedeutung. „Hier werden etwa sieben bis 10 Prozent des Bruttonationalprodukts geschaffen“, berichtet Ksenia Vakhrusheva, russische Umweltexpertin der Bellona Foundation in Oslo.