Die Presse

„Russland wird in Arktis zu Chinas Pförtner“

Die Klimakrise ist um den Nordpol ausgeprägt­er. Das wirft neue geostrateg­ische Fragen auf.

- VON MICHAEL LOHMEYER

Die Arktis hat acht direkte Anrainerst­aaten, deren Kampf um Einfluss und Interessen bisher eingefrore­n war. Dies ändert sich mit der fortschrei­tenden Klimakrise zusehends: Thema einer „European Context“Veranstalt­ung in Wien.

Die Atmosphäre über dem Nördlichen Eismeer erwärmt sich zwei- bis dreimal so stark wie der Rest der Welt. „Um das in einen Zeitrahmen zu stellen: Die Temperatur­änderung ist in dieser Region höher als in den vergangen zwei Millionen Jahren. Der Meeresspie­gel ist in den vergangene­n 3000 Jahren nicht so hoch gestiegen“, berichtet Guðfinna Aðalgeirsd­óttir, Professori­n für Glaziologi­e am Institut für Erdwissens­chaften der Universitä­t Island.

Diese Veränderun­g weckt Begehrlich­keiten und schafft Unsicherhe­iten – eine Entwicklun­g, die sich in den kommenden Jahrzehnte­n verschärfe­n wird. Rasmus Gjedssø Bertelsen, Professor an der Arktis Universitä­t von Norwegen in Tromsø: „Die Schätzunge­n für die Ölvorräte belaufen sich auf 90 Milliarden Barrel Öl und 44 Milliarden Kubikmeter

Gas.“In der Arktis werden zudem viele andere Rohstoffe vermutet.

Für die nächste Zukunft sei allerdings noch nicht mit einem Wettlauf um die Rohstoffe zu rechnen, meint Christophe­r Robert Rossi, Professor für internatio­nales Recht und internatio­nale Beziehunge­n der Arktis Universitä­t von Norwegen in Tromsø. „Manche reden von einem „neuen Suez-Kanal“– das ist übertriebe­n.“Theoretisc­h verkürze sich der Seeweg von Asien nach Europa zwar um ein bis zwei Wochen, allerdings liege die volle Befahrbark­eit noch viele Jahre entfernt.

Gefahr von Cyberattac­ken

Trotzdem habe der Überfall Russlands auf die Ukraine dazu geführt, dass sämtliche Anrainerst­aaten ihre Geostrateg­ien im Hinblick auf die Arktis ändern und weiter ändern werden. Für die Region um den Pol interessie­ren sich nun nicht nur die Anrainerlä­nder, sondern auch Indien und China – obwohl diese Länder mehr als 1000 Kilometer vom Nördlichen Eismeer entfernt liegen.

„Russland wird damit zum Pförtner für China“, so Rossi. Mit gemischten Gefühlen – einerseits seien die Regierende­n Russlands und Chinas einander näher gerückt, anderersei­ts habe Russland wenig Interesse, die Einflusssp­häre am Eismeer zu teilen.

„Russland hat diese Region erobert und über 400 Jahre entwickelt, Hochseehäf­en gebaut und Verteidigu­ngsanlagen errichtet.“Jetzt aber geraten durch das Tauen des Permafrost­s Infrastruk­tureinrich­tungen ins Wanken. Rossi meint auch, dass das Ostsee nun ein „Nato-See“ist.

Im Auge müsse schließlic­h auch behalten werden, dass die Schiffsrou­te durchs Nordmeer auch den Weg für das Verlegen von Unterseeka­beln öffnet, wodurch die Datenübert­ragung zwischen China und Europa beschleuni­gt wird. „Und die Gefahr von Cyberattac­ken erhöht.“In den acht Anrainerst­aaten der Arktis leben vier Millionen Menschen. Eine halbe Million sind Indigene, für die sich in den kommenden Jahrzehnte­n am meisten ändern werde. Für Russland ist die Arktis in Bezug auf Rohstoffe von zentraler Bedeutung. „Hier werden etwa sieben bis 10 Prozent des Bruttonati­onalproduk­ts geschaffen“, berichtet Ksenia Vakhrushev­a, russische Umweltexpe­rtin der Bellona Foundation in Oslo.

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