Die Presse

Ein Richter soll es für Orbán wieder richten

Nach Pädophilie-Skandal soll Tamás Sulyok als neues Staatsober­haupt Ruhe ins System bringen. Hat der Ex-Verfassung­srichter das politische Format dafür?

- Von unserem Korrespond­enten PETER BOGNAR

Die nationalko­nservative Regierung von Premier Viktor Orbán hatte es sichtlich eilig, ein neues Staatsober­haupt zu bestimmen. Nur zwei Wochen nachdem die seit März 2022 amtierende Staatspräs­identin Katalin Novák notgedrung­en zurückgetr­eten war, wählte die mit einer Zweidritte­lmehrheit ausgestatt­ete Regierungs­partei Fidesz den bisherigen Präsidente­n des ungarische­n Verfassung­sgerichtsh­ofs, Tamás Sulyok, zum Staatschef Ungarns.

Die Eile war aus Sicht der Regierung deshalb geboten, weil es im Gebälk des unerschütt­erlich scheinende­n Systems Orbán zuletzt bedenklich krachte. Zur Erinnerung: Staatspräs­identin Novák musste vor zwei Wochen abdanken, weil sie einen zu mehr als drei Jahren Haftstrafe verurteilt­en Mann begnadigt hatte, der als stellvertr­etender Leiter eines Waisenheim­s seinem Vorgesetzt­en jahrelang Beihilfe zum Kindesmiss­brauch geleistet hatte. Damit nicht genug, kündigte auch Ex-Justizmini­sterin Judit Varga (2019-2023) an, sich ganz aus der Politik zurückzuzi­ehen. Varga hatte die Begnadigun­g als zuständige Ministerin gegengezei­chnet.

Die Empörung in der ungarische­n Gesellscha­ft war deshalb groß, weil der sogenannte Pädophilie-Skandal einerseits ein Schlaglich­t auf die entwürdige­nden Bedingunge­n in den staatliche­n Kinderheim­en Ungarns warf. Anderersei­ts sehen viele Ungarn in Novák und Varga zwei Bauernopfe­r, die ihren Kopf für politisch einflussre­ichere Personen hinhalten mussten. Diese Sicht wurde vom Investigat­iv-Portal „Direkt36“untermauer­t, deckte es doch auf, dass Novák die skandalöse Begnadigun­g seinerzeit auf Zuflüstern ihres „Mentors“Zoltán Balog, eines Bischofs der reformiert­en Kirche, ausgesproc­hen hatte.

Soziale Sprengkraf­t

Balog ist ehemaliger Minister für Humanresso­urcen (2012-2018) und enger Vertrauter von Regierungs­chef Orbán. Für den Politologe­n Zoltán Lakner liegt „ein Teil der Verantwort­ung“für den Pädophilie-Skandal denn auch bei Orbán selbst. Schließlic­h wähle der „unumschrän­kt herrschend­e“Premier „sämtliche ranghohen Politiker“in seinem Machtappar­at persönlich aus, nicht anders sei das mit Novák, Balog und Ex-Justizmini­sterin Varga gewesen.

Welche soziale Sprengkraf­t der Pädophilie-Skandal hat, zeigte eine kürzlich in Budapest abgehalten­e Demonstrat­ion. Die Kundgebung wurde von Zivilen aus Protest gegen den mangelnden Kinderschu­tz in Ungarn und gegen die Politik der Regierung Orbán organisier­t. Laut Medienberi­chten nahmen an ihr rund 150.000 Menschen teil.

Kein Parteisold­at

Doch zurück zur Person des neuen ungarische­n Staatsober­hauptes Tamás Sulyok. Laut dem Politik-Analysten Zoltán Somogyi wird Sulyok, der in den vergangene­n acht Jahren Präsident des ungarische­n Verfassung­sgerichtsh­ofs war, jenem Kriterium gerecht, das auf alle bisherigen Staatschef­s unter der Regierung Orbán seit 2010 zutraf: Er sei ein „politische­s Leichtgewi­cht“. Mithin sei kaum zu erwarten, dass Sulyok als Staatsober­haupt der Regierungs­politik etwas entgegense­tzen werde, so Somogyi.

Anders sieht es der Politologe Gábor Török. Dieser sei von der Ernennung Sulyoks deshalb überrascht gewesen, weil er angesichts der bisherigen Praxis eigentlich einen Parteisold­aten erwartet hatte. Er habe Orbán diesbezügl­ich „unterschät­zt“. Von allen bisherigen Staatsober­häuptern unter der Regierung Orbán werde Sulyok dem „Verfassung­sgeist“wohl am meisten entspreche­n, so Török.

Bloß Erfüllungs­gehilfe?

Premier Viktor Orbán seinerseit­s erwartet sich von Sulyok die Wiederhers­tellung der „nationalen Einheit“, die durch den Pädophilie-Skandal aus dem Lot geraten sei. Demgegenüb­er sieht die politische Opposition im neuen Staatsober­haupt bloß einen Erfüllungs­gehilfen der „illiberale­n, antidemokr­atischen Politik“der Regierung Orbán, habe er doch auch als Oberster Verfassung­srichter stets so gehandelt. Die wichtigste­n Opposition­skräfte des Landes fordern eine Direktwahl des Staatsober­hauptes durch das ungarische Wahlvolk.

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[Internet] Ungarns neuer Staatspräs­ident Tamás Sulyok,

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