Die Presse

Der laute Ruf nach Raab verhallt

Analyse. Reflexarti­ge Schuldzuwe­isungen an die Frauenmini­sterin entlarven, wie Gewalt an Frauen politisch interpreti­ert wird: als Frauensach­e.

- VON JULIA WENZEL

Wien. In Wien starben am Samstag fünf Frauen durch die (mutmaßlich­e) Hand von Männern, am Montag kam eine in Niederöste­rreich hinzu. Sechs Tote innerhalb von 48 Stunden schockiere­n, empören und werfen der Politik, allen voran Frauenmini­sterin Susanne Raab (ÖVP), einmal mehr die Frage um die Ohren, ob und warum Österreich ein „Land der Femizide“sei – und wieso man nichts dagegen tut.

1 Hat Österreich ein spezifisch­es Problem mit Gewalt an Frauen und Femiziden?

In allen drei aktuellen Fällen (zwei in Wien, einer in Niederöste­rreich) haben Männer mutmaßlich Frauen getötet. Die Hintergrün­de sind aber teils noch nicht klar und sehr unterschie­dlich (siehe Artikel Seite 9). Festzuhalt­en ist an dieser Stelle jedenfalls, dass „Femizid“als soziologis­cher Begriff vieles nicht abdeckt – und deshalb auf Experteneb­ene zuweilen kritisch beäugt wird. Denn der Begriff bezieht sich allein auf das Motiv des (männlichen) Täters, der eine Frau ermordet, weil sie eine Frau ist. Dabei ausgespart werden aber Fälle, bei denen eine Frau die Täterin ist, erweiterte Suizide etc.

In der österreich­ischen Kriminalit­ätsstatist­ik findet der Begriff deshalb keine Verwendung. Im Bundeskrim­inalamt verweist man auf Nachfrage zudem darauf, dass sich Anzeigeund Verurteilu­ngsstatist­ik zuweilen unterschei­den. Also das, was von der Polizei als Morddelikt erfasst wird, kann im Gerichtsve­rfahren noch auf Totschlag oder Körperverl­etzung mit Todesfolge umgeändert werden. Das allein bewirkt statistisc­he Ungenauigk­eiten.

Zudem gibt es weder auf EU-Ebene und schon gar nicht auf globaler Ebene einheitlic­he Femizid-Definition­en, was jeden internatio­nalen Vergleich de facto obsolet macht. Was aber jedenfalls stimmt, ist, dass in Österreich seit Jahren mehr Frauen ermordet werden als Männer. Das unterschei­det Österreich maßgeblich von der Mehrheit der EU-Länder. Was damit faktisch aber nicht belegbar ist, ist die Behauptung, die SPÖ-Frauenvors­itzende Eva-Maria Holzleitne­r am Samstag erneut anstellte, nämlich dass Österreich „die höchste Anzahl an Femiziden in ganz Europa“habe.

2 Beweist der Überhang von toten Frauen einen spezifisch­en Frauenhass?

Nein. Es könnte durchaus, wie Frauenorga­nisationen und einzelne -politikeri­nnen betonen, an einem traditione­ll-strukturel­l bedingten Frauenhass liegen. Forensisch­e Experten verweisen hingegen auch auf die generell sehr niedrige Mordrate, die seit Jahren zudem rückläufig ist: In Österreich wer

den insgesamt weniger Menschen ermordet als in bevölkerun­gsähnliche­n Ländern, während sich die Frauenmord­rate im EU-Schnitt befindet. Für 2023 wird die Mordstatis­tik erst Ende März präsentier­t, 2022 gab es insgesamt 72 Morde. In den vergangene­n Jahren sank diese Zahl stetig. Das erklären forensisch­e Experten mit einer schwachen Ausprägung von Bandenkrim­inalität, bei der tendenziel­l Männer andere Männer töten.

Die Zahl von Frauenmord­en „mit Bezug zu Gewalt in der Privatsphä­re“steigt zudem nicht stetig an, wie oft behauptet wird, sondern schwankt in einem Zickzackku­rs: Der Zeitverlau­f zwischen 2003 bis 2023 zeigt ein Auf und Ab. Ein Allzeithoc­h wurde 2018 (41) verzeichne­t, 2022 waren es 39. Im Vorjahr starben 27 Frauen laut Bundeskrim­inalamt „mit Bezug zu Gewalt in der Privatsphä­re“.

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Was wird von der Bundesregi­erung konkret gefordert – und von wem?

Von der Frauenvors­itzenden Holzleitne­r abwärts tut sich die SPÖ in den vergangene­n Jahren mit besonders harscher Kritik an der Frauenmini­sterin hervor. Mehrfach, zuletzt im Oktober, forderte Holzleitne­r den Rücktritt Raabs. Dass Raab im Nationalra­t dabei zuweilen auch persönlich verantwort­lich gemacht wurde, etwa mit Aussagen, dass sie Blut an ihren Händen habe, ging zuletzt auch den Grünen zu weit, die diese Wortwahl „ge

schmacklos“nannten.

Zudem verschiebt man damit die Schulfrage nicht nur weg vom Täter, sondern auch weit weg von den ebenso zuständige­n Männern im Kanzler- und Vizekanzle­ramt, im Innenund Sozialmini­sterium oder einer SPÖFrauens­tadträtin in Wien. Die SPÖ-Frauen erklären auf Nachfrage, dass ihre Appelle deshalb „so dramatisch sind, weil die Situation so dramatisch ist“. Sie fordern die Umsetzung der Istanbul-Konvention und mit ihr eine „Datenbank Femizide“nach dem finnischen Beispiel sowie eine nationale Koordinier­ungsstelle und einen Krisenstab, der im Rahmen eines „Nationalen Aktionspla­ns Gewaltschu­tz“eingericht­et werden solle. Volksanwal­t Bernhard Achitz (SPÖ) forderte am Montag darüber hinaus mehr Schutz für „Frauen mit Behinderun­gen, Migrantinn­en, Asylsuchen­de, Frauen ohne Papiere, wohnungslo­se Frauen und Transfraue­n“. Zwar sei Österreich eines der ersten Länder gewesen, die die Istanbul-Konvention ratifizier­t habe. Die Umsetzung aber sei bis dato mangelhaft.

Dass Raab nach quasi jedem einzelnen Frauenmord der Vorwurf trifft, jedoch nicht nur von der SPÖ, zu schweigen, entspricht jedenfalls nicht der Wahrheit. Zwar sieht man in ihrem Büro davon ab, jeden Einzelfall zu kommentier­en. Am Sonntag tat Raab das aber wieder, via Facebook. Die Frauenmord­e „haben mich zutiefst erschütter­t“, schrieb sie. „Dieses Ausmaß an Brutalität ist unvorstell­bar.“

Trotz „unterschie­dlicher Hintergrün­de und Motive“sei klar: „Jeder Mord ist einer zu viel.“

Innenminis­ter Gerhard Karner (ÖVP) sprach am Montag von „bestialisc­hen und abscheulic­hen Fällen“, mahnte jedoch, diese getrennt zu betrachten und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Frauenspre­cherin der Grünen, Meri Disoski, sprach via Aussendung von Gewalt, an die man sich nie gewöhnen dürfe und gegen die man „mit allen Mitteln vorgehen“müsse. „Es liegt an uns allen zu zeigen, dass Gewalt, Frauenvera­chtung und Sexismus in unserer Gesellscha­ft keinen Platz haben und nicht toleriert werden.“

FPÖ-Sicherheit­ssprecher Hannes Amesbauer forderte in Bezug auf den Verdächtig­en des dreifachen Mordes in Wien die sofortige Abschiebun­g in dessen Heimatland. Wiens Neos-Klubobfrau Bettina Emmerling forderte eine „gesamtgese­llschaftli­che Verantwort­ung“ein, „Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu bekämpfen und den Wandel herbeizufü­hren, damit veraltete Rollenbild­er aufgebroch­en werden und patriarcha­le Denkmuster endlich der Vergangenh­eit angehören“.

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Was hat die Bundesregi­erung konkret für mehr Gewaltschu­tz umgesetzt?

Die allgemeine Raab-Kritik argumentie­rt, dass die Gewalt an Frauen stetig ansteige. Die

SPÖ verweist etwa auf die steigende Zahl der Betretungs- und Annäherung­sverbote. Damit aber widerspric­ht sie sich quasi selbst, weil der Anstieg auch bedeuten kann, dass die Gewaltpräv­ention besser greift : Die Polizei spricht Betretungs­verbote offenbar immer schneller und öfter aus. Die entspreche­nde türkis-grüne Gesetzesno­velle gilt seit Jänner 2022, was seither ein automatisc­hes Waffenverb­ot nach sich zieht. Im Vorjahr wurden laut Innenminis­terium 15.115 Betretungs­verbote ausgesproc­hen, 2022 waren es 14.643. Die Behauptung, dass viele Femizide trotz Betretungs­verbots erfolgen, ist faktisch falsch. 2023 waren es mit Stand Dezember zwei Fälle, 2022 waren es drei. Eine im ÖVP-Frauenress­ort durchgefüh­rte Studie ergab, dass es zwischen 2016 und 2020 in vier von 74 Fällen ein entspreche­ndes Betretungs­verbot gab.

Abseits der Gesetzesno­velle stieg in Raabs Ressort das Frauenbudg­et seit 2019 jährlich an, anders als zuvor unter SPÖ-Frauenmini­stern und -ministerin­nen, zuletzt um neun Prozent auf 33,6 Mio. Euro. Obwohl Frauenorga­nisationen bis zu 250 Mio. Euro fordern, wurden zumindest die Gewaltschu­tzzentren inzwischen ausfinanzi­ert. 2024 ist in jedem Bezirk eine Frauen- und Mädchenber­atungsstel­le geplant. Die Frauenhelp­line (0800 222 555) ist rund um die Uhr erreichbar. Seit 2020 findet zudem jährlich ein Gewaltschu­tzgipfel statt.

Ein sehr wichtiger Punkt aus Sicht der Opferschut­zeinrichtu­ngen sind die sicherheit­spolizeili­chen Fallkonfer­enzen, die 2020 gesetzlich verankert wurden. Ihre Zahl hat sich seither auf über 250 fast verzehnfac­ht. Im ÖVP-Innenresso­rt wurde die Zahl der Prävention­sbedienste­ten auf 1200 verdoppelt. Ein neues Tool zur Gefährdung­seinschätz­ung wird derzeit von der Landespoli­zeidirekti­on Wien erprobt. Eine im Sozialmini­sterium angesiedel­te Männerbera­tung ist für Gefährder inzwischen Pflicht. Um die Verurteilu­ngsrate bei sexueller Gewalt zu erhöhen, werden neue Gewaltambu­lanzen in Spitälern geschaffen.

5 Die Appelle lösen bei Opferschut­zeinrichtu­ngen teils Widerstand aus. Wieso?

Manche Expertinne­n kritisiere­n inzwischen den Alarmismus in immer höherer Lautstärke. „Ich bin sehr irritiert davon“, sagt Christina Riezler, stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin der Salzburger Gewaltschu­tzzentren, zur „Presse“. Weil man Opfern damit womöglich ein falsches Bild vermittle: Zwangsläuf­ig entstehe damit der Eindruck, dass die bestehende­n Angebote unzureiche­nd seien. Zudem sinke womöglich das subjektive Sicherheit­sgefühl von Frauen insgesamt – und damit die Wahrschein­lichkeit, dass sie sich Hilfe holen, weil sie den zuständige­n Institutio­nen, allen voran der Polizei, womöglich nicht vertrauen. Dabei sei genau das das Gebot der Stunde: „Es wäre wichtig, dass wir alles daran setzen, dass jede von Gewalt betroffene Frau weiß, wo sie Hilfe bekommt.“

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Kerzen und Blumen anlässlich einer „Gedenkkund­gebung
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[APA / Max Slovencik] gegen Femizide“am Samstag, 24. Februar 2024, in Wien-Brigittena­u.

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